www.fritz-koester.de
Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Bibellesen - keine Ermutigung zum herkömmlichen Kirchesein.

September 2003

Es hat sich inzwischen weiträumig herumgesprochen, daß der Mitgliederschwund der Kirchen seit Jahren auf hohem Niveau bedrohlich ist. Auffallend bei neueren Untersuchungen ist vor allem, daß auch bei den Gläubigen und "Praktizierenden" der Vertrauensbruch beträchtlich wächst. Gerade mal 11% der Deutschen haben noch Vertrauen in die katholische, 17% in die protestantische Kirche. Für "Insider" ist es besonders aufregend zu erfahren:

"Es sind konstruktiv-kritische Leute, keine Jammerer". Aus eigener Erfahrung läßt sich dem hinzufügen: auch Bibelleser gehen häufiger als erwartet auf Distanz. Die Hoffnung erfüllt sich nicht, daß das Bibellesen zur Ermutigung führt, sich in und für die Kirche mehr zu engagieren. Im Gegenteil. Große Zweifel sind angesagt. Folgende Gründe springen dabei in die Augen:

1. "Ich will Christ sein, auch als solcher leben. Ich will aber kein mittelalterliches System, welches monarchisch, hierarchisch, patriarchalisch und klerikalistisch ist, stützen". -
 
Biblisches Denken bestärkt die Menschen in ihrer kritischen Distanz zu einer solchen Verfassung, statt sie abzubauen. Wenn die Kirchen "Jahre der Bibel" ausrufen, wissen sie oft nicht, was sie sich selbst und ihrem Status damit antun. Kritiker, "Ketzer" und "Häretiker" können nicht ähnlich weittragende Auswirkungen auf das Denken der Gläubigen haben wie das, was in der Bibel zu finden ist: Freiheit und Kreativität der ersten Christen! Diesen war es möglich, ihre Ämter und Kompetenzen so zu gestalten, wie es ihren aktuellen Bedürfnissen entsprach. Immer mit dem Ziel im Auge: durch uns Christen müssen das heilsame Denken und Handeln Jesu weitergehen! -

2. Dogmatische Lehr-Vorgaben sind nicht gefragt. Für Streitfragen, ob Gott dreifaltig ist oder nicht; ob "Rechtfertigung" nur aus dem Glauben erwächst oder nicht; ob Jesus nur wahrer Mensch war oder auch wahrer Gott in einer Person; ob Frauen und "Laien" in der Kirche etwas "dürfen" oder nicht... - für alle diese Fragen haben die Menschen insofern wenig Sinn und Verständnis, als ganz andere Sorgen sie bedrängen. Im heutigen Religionspluralismus helfen ihnen die vielen alternativ bereitliegenden Antworten mehr als herkömmliche Wiederholungen. Zudem ist der Sinn für die Größe, Unergründlichkeit und Unbegreifbarkeit Gottes gewachsen. Wie kann dann, von wem auch immer, so selbstsicher und unfehlbar über Gott geredet werden? Solche Reden wirken wie Gottesbehauptungen, die niemand nachweisen und beweisen kann, und die immer weniger Menschen nachzuvollziehen bereit sind, zumal divergierende Antworten überall bereit liegen.

3. Während die Kirchen mit ihren Lehren immer "sprachloser" werden - was leider allzu oft durch viel Reden kompensiert wird -, werden die Menschen kirchen- und konfessionslos, aber nicht religionslos. Im Gegenteil werden Kräfte wach, die die profane Religionswissenschaft schon lange kennt und anmahnt: die Frage nach Gott und Transzendenz hat viel mit menschlichem Suchen, Fragen, Ahnen und Vermuten gemeinsam, wenig mit (selbst)sicheren Behauptungen. Die Kirchen müßten es wieder lernen, das persönliche Fragen und Suchen zu stärken (auch in Gemeinschaft), statt Sehnsüchte dogmatisch und kirchenrechtlich vorschnell abzuwürgen. Die Aufgabe der Theologie wäre es, in Erinnerung zu rufen, was Menschen früherer Zeiten in ihren Lebenslagen und Situationen an für sie gültigen und plausiblen Antworten auf Fragen gefunden haben; die aber nicht für alle Zeiten tragfähig und haltbar sind. Es geht also darum, die eigene Tragfähigkeit zu erforschen...

4. Wenn überhaupt religiöse Sicherheiten möglich sind bzw. werden sollten, dann wird heute nicht nach "Lehren" und "Gottesbeweisen" gefragt als viel mehr nach "exemplarischen Menschen", die zunächst die "Religionsstifter" selbst sind, dann deren anerkannte und glaubwürdige Zeugen. Den Weg Buddhas zu gehen, wird für die Buddhisten wichtig; die Anweisungen Mohammeds richtig zu verstehen und im Heute zeitgemäß nachzuvollziehen, wird Aufgabe der Moslems; die Worte und Taten Jesu in der Zeit und Gegenwart menschennah und situationsgerecht fortzusetzen, wird zu einer Existenz- und Überlebensfrage der Christen. Nicht die angeblich zeitlosen Lehren erweisen sich als tragfähig; wohl aber das stets gesuchte und versuchte "wahre Leben", welches sich von den überzeugenden "Lebensmodellen" der Bibel oder der Tradition inspirieren läßt.
Diese sind nicht nachzuahmen; sie dienen eher als Impulsgeber für selbständiges Denken und Urteilen, für eine eigene verantwortliche Lebensgestaltung in Würde und Freiheit.

5. Religiöses Suchen und Fragen sind kein Privileg für wenige, die sich "Religionsvertreter", "Fachleute" und "Experten" nennen. Die "Expertokratie" ist eine der phänomenalen Tatsachen, die heute den großen Abfall mitverursacht. Eine "Elfenbein-Theologie" neigt dazu, eine Wissenschaft zu werden, die am wenigsten von Gott versteht. Nicht zufällig findet sich heute eindringlich Religiöses eher in der Kunst, der Musik, Literatur, Naturmystik... als in den Kirchen. Zudem verleugnet sich eine Religion selbst, die das Vertrauen der Leute verliert - nicht zuletzt deshalb, weil sie in konkreten Maßnahmen das Gewissen, die Freiheit und religiöse Kompetenz der Menschen leugnet. Statt schöpferische Kräfte zu entfalten, werden aktive Menschen allzu oft in eine passive Rolle gedrängt. Einflußreiche kirchliche Kreise, des Argumentierens unkundig und ohne Sensibilität für Prozesse und Entwicklungen, behelfen sich mit Formeln, Wiederholungen und Zurechtweisungen. Sie tun unbewußt alles, um bei aller theologischen Kompetenz keine Autorität zu haben. Sie scheinen ausschließlich auf den Erhalt von "Kirche" und ihrer Einflußbereiche bedacht zu sein. Als Ersatz für persönliches Denken und Entscheiden schielen sie nach nächsten Obrigkeiten oder stützen sich auf Lehre und Kirchenrecht. -

Dagegen geht es in der Predigt Jesu weder um Kirchenrecht noch um den Erhalt von Kirche; auch nicht um eine für alle Zeiten verbindliche und starre Pflichtenlehre. Es geht um die Frage nach Gott und um jenseits des menschlichen Horizontes liegende Realitäten, die im Hier und Heute bereits ihren Anfang nehmen müssen. Durch Werte-Vorgaben haben die Predigt und das Beispiel Jesu ein für allemal gelehrt, was "gottgemäßes Leben" heißt, welches der Welt Frieden und Heil zu bringen vermag - nicht als morgendliches Sonntags- oder Festtagsgerede, wohl aber als "Same" und "Sauerteig", deren Wirksamkeit auf Dauer sich entfaltet.

6. Anstatt die "Dynamik des Anfangs" aufzugreifen, wie die Bibel sie schildert; anstatt die Verklammerung der Sache Jesu mit der heutigen Zeit zu suchen, hält man sich lieber - aus Angst vor der eigenen Courage - an "Strohhalmen" fest, die kurzsichtig und wenig hilfreich sind:

  1. das Festhalten an rechtlichen und autoritären Vorgaben, an denen sich die Menschen wie auch Gott zu orientieren haben. Widersprechenden wird mit Zurechtweisungen gedroht.
  2. Charismatischer Enthusiasmus und fundamentalistische Ansprüche, die für die Christenheit neue Spaltungen und innerkirchliche Schismen zur Folge haben.
  3. das Beharren auf dem "Höchsten" und "Wichtigsten", das ist die Eucharistie, obwohl längst klar ist, daß dieses Höchste und Wichtigste auf Zukunft hin nicht gerettet werden kann, wenn das gesamte kirchliche Umfeld im Sinne des Evangeliums nicht stimmig ist.
  4. Glaube an "geistliche Zentren", die Sonntagsstimmung erzeugen und die in einer immer mehr sich säkularisierenden Welt wie Leuchttürme wirken (sollen), während Gruppen und Gemeinden, in denen Hand angelegt werden muß, ausbluten und verarmen. Esoterisch geartete "Schnellschüsse" also, die eine ehrliche Bestandsaufnahme und "Diagnose" überflüssig machen.
  5. Stellungnahmen zu gesellschaftlichen und sozialen Problemen, die aber weitgehend im Winde verwehen und ohne Wirkung bleiben, weil "Welt" und "Gesellschaft" ihre eigenen Kompetenzen erkannt haben und entwickeln. Warum außerkirchlich auf solche Verlautbarungen hören, wenn innerkirchlich Autorität und Einflußnahme schwinden? So hat auch die Wandlung von der Heils- zur Sozialkirche seit den 60-ger Jahren den Kirchen nichts genützt; denn sie lief parallel zum Ausbau des Sozialstaates.

7. Fünfzig Jahre nach dem 2. Vatikanischen Konzil, vor allem seit 30 Jahren, ist es Konzilsgegnern gelungen, so zu tun, als hätte es dies nie gegeben. Das Rückgängigmachen des Konzils durch eine einflußreiche Minderheit hat zu einem enormen Problemstau geführt. Die "Rückkehr zu den Quellen" schien den Platzhaltern des Bisherigen zu gefährlich für sie selbst. Dennoch ist und bleibt die Bibel die einzige Möglichkeit, fundiert den Mut zu Neuem zu wagen. Sonst werden die Kirchen nicht aufhören, wie Behörden zu wirken - ohne Strahl- und Anziehungskraft. Wenn sich damit getröstet wird, daß es den außer-deutschen bzw. außer-europäischen Kirchen besser geht, so zeigt die Entwicklung deutlich: die deutschen bzw. europäischen spielen bei ihren "Aderlässen" und "fortlaufenden Erfolgen" für die übrigen eher eine Vorreiterrolle. Denn überall in der Welt breiten sich Säkularismus und reiner Pragmatismus aus. Wie soll in den neuen Ländern also die viel propagierte "Evangelisierung" gelingen, wenn sie in den alten nicht gelungen ist? Wie über christliche Werte predigen, wenn ihre Lebbarkeit so wenig sichtbar wird?


Letzte SeitenÄnderung: 02.03.2011.
Bitte beachten Sie meine Nutzungsbedingungen.