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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Unglaublich, was Christen glauben (VII).

April 2004

VII. Der Glaube an die eine, heilige, katholisch-apostolische Kirche.

Daß sich die "Gnadenanstalt Kirche" - so der Religionssoziologe M. Ebertz - im "freien Fall" befindet, ist ein offenes Geheimnis. Daß die "Ursachenforschung" in vollem Gange ist, weiß auch jedermann. Dabei wird die Tatsache, daß die "frohe Botschaft" in einer säkular und unkirchlich sich gebenden Welt kein besonderes Gehör findet, speziell für die Verkünder dieser Botschaft eine arge Herausforderung und Enttäuschung. Zudem liegen Mißverständnisse vor: was als die eine Kirche suggeriert wird, ist keine Realität; heilig bedeutet nicht, daß es in ihr keine Sünde gibt; katholisch war ursprünglich nicht "konfessionell" gemeint und apostolische Nachfolge von Anfang an - darauf wird, um der eigenen Legitimation willen, unter allen Umständen bestanden. Bei lesenden und bibeltreuen Christen meldet sich inzwischen das vielleicht gravierendste Problem: was Kirche ist, sein will und wie sie sich darstellt, findet sich meist nicht in dem "heiligsten der Bücher". Da sind die monarchischen, patriarchalischen, hierarchisch-klerikalen Strukturen - mit feudalistischem Auftreten und höfisch-byzantinischem Gepränge; da ist das Zentriertsein auf Kirchenämter und Sakramente; da ist die schwer verständliche "systematische Lehre" als ganzheitliche Ausformulierung des Glaubens; da gibt es Kirchenrecht und moralische Vorschriften und Verbote, die vielen uneinsichtig bleiben... Das alles erschüttert den Glauben an die Kirche. Kann sich alles Gewordene auf Jesus berufen? Diese Frage stellt sich auch den reformierten Kirchen, die die Freiheit des Christenmenschen betonen. Ihnen geht es nicht besser. Die Ursachen für den allgemeinen Niedergang müssen also tiefer liegen.

1. Die Kirche - von Jesus gestiftet?

Die in früheren Zeiten für selbstverständlich gehaltene positive Antwort auf diese Frage hat vielleicht A. Loisy (um 19oo) als erster lautstark angezweifelt. Sein Satz: "Jesus verkündete das Reich Gottes und es kam die Kirche" hat Furore gemacht, zumal der Unterton dabei nicht zu überhören war: die Kirche sozusagen als (billiger?) Ersatz für das, was ursprünlich mit "Reich Gottes" gemeint war.

Naturgemäß war die offizielle Kirche von Anfang an nicht sehr zufrieden mit solcher Auskunft eines Theologen. Je mehr der Eindruck entstand, daß Loisys Aussage aufs Nach-Denken vieler Christen angelegt war, desto mehr versuchte sie durch "absoluten Glaubensgehorsam" gegenüber "unfehlbaren Aussagen des Lehramtes" jeder Diskussion ein Ende zu bereiten. Sie bestand auf dem "Gehorsam des Willens und des Verstandes" bei Lehraussagen von Kirche und Papst. So der Weltkatechismus aus dem Jahre 1993. Dieser erweckt auch den Eindruck, daß durch mehrere feierliche Akte die Kirche von Jesus ins Leben gerufen wurde, z.B. durch seine Predigt; vor allem durch die Berufung der zwölf Apostel, welche die besondere Berufung des Klerus zur Folge gehabt habe und haben müsse. Damit war die Berufung von Frauen in kirchliche Ämter (vorerst) auszuschließen - eine Bibelinterpretation, die in der Zwischenzeit von anderen christlichen Konfessionen nicht übernommen wurde.

Der deutsche Katechismus aus dem Jahr 1985 spricht von einer gestuften Kirchengründung. Jesus habe die Kirche nicht durch ein besonderes Wort oder einen speziellen Akt gestiftet. Die Kirche sei sozusagen entstanden innerhalb der Dynamik der Heilsgeschichte. Schon zu Beginn der Menschheitsgeschichte habe Gott einen Bund mit Noe und dem "auserwählten Volk" geschlossen. Dieser Bund sei durch den irdischen Jesus bestätigt und erneuert worden. Durch die Erwählung der Zwölf seien die zwölf Stämme Israels Mittelpunkt und Adressat seiner Botschaft geworden - ein Rahmen, der später erst durch die Heidenmission des Apostels Paulus entscheidend gesprengt wurde.

Was die Dynamik der Heilsgeschichte betrifft, entstand nach dem Tod und der Auferstehung Jesu "die Kirche", besser gesagt: die durch die Katastrophe des Karfreitags aufgescheuchten Jünger/Innen und Apostel faßten langsam wieder Mut, nachdem die Nachricht von der Auferstehung Jesu die Runde machte. Sie versammelten sich, um sich gemeinsam an all das zu erinnern, was Jesus gesagt und getan hatte. Als Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaften bildeten sich die ersten christlichen Gemeinden wie von selbst. Sie wurden sich auch ihres Auftrags und ihrer Berufung bewußt. Man könnte diese in einem Satz zusammenfassen: Christen und christliche Gemeinden sind dafür bestellt, daß durch sie die Worte und Taten Jesu weitergehen und weiterwirken. Der Aufruf zu Umkehr und Bekehrung beinhaltete einen neuen Geist, ein neues Denken, verbunden mit dem Postulat, "normal" menschliche Neigungen und Egoismen abzulegen, um für die "andere" Denk- und Handlungsweise Jesu fähig zu sein - für die "Nachfolge Jesu" im Geist einer größeren Gerechtigkeit und Liebe.

Entsprechend könnte man auch das Glaubensbekenntnis der biblischen Zeit verstehen und definieren. Der Glaube an die Person Jesu beinhaltete das Ja-Sagen zu dem, was Jesus gesagt und getan hatte;
implizierte die Erfahrung seines heilsamen und erlösenden Handelns an den Menschen; postulierte die Forderung an alle Menschen guten Willens, sich durch Taten der Liebe die Denk- und Handlungsweise Jesu verbindlich zueigen zu machen. Glaube also als die verbindliche Übernahme der Worte und Taten Jesu in die eigene Lebens- und Weltsituation!

Ein solches Selbstverständnis von Christen unterscheidet sich meilenweit von einem "Glauben" an wohlformulierte Sätze, an dogmatische Wahrheiten, an einen Lehrbetrieb als Ausdruck spekulativen Denkens und akademischen Dozierens. Ein solch hausgemachter "Glaube" hat die Separatismen und verschiedenen Konfessionen hervorgebracht - seit Origines (gest.253/54) mit einem ziemlich "rigoristischen Heilsexklusivismus" auf allen Seiten. Deren verheerende Folgen sind heute allzu bekannt: theologische Rechthabereien, Ketzerverbrennungen, Inquisitionen, Religions- und Glaubenskriege, die fundamentalistische Verabsolutierung ideeller Einstellungen von Menschen, Fanatismus, Terrorismus...

Solche "Glaubensbekenntnisse" haben die Menschheit noch mehr gespalten und gegeneinander aufgebracht, als sie ohnehin schon durch ethnische, sprachliche und kulturelle Spannungen bereits getrennt war. Nicht zu Unrecht distanziert sich heute ein großer Teil der "aufgeklärten Menschheit" von solchen Ideologien und menschengemachten Ismen. Sie werden entlarvt als Erfindungen der Kirchen, als politische Machtausübung und religiöse Gängelung, als theologische Vormundschaft gegenüber den in Unmündigkeit Gehaltenen. Was das Schlimmste dabei ist: je mehr an der These festgehalten wird, daß diese Entwicklungen im Großen und Ganzen - wenn auch mit einigen Einschränkungen - auf Jesus zurückgeführt werden können, desto mehr wird dieser in Mitleidenschaft gezogen. Aus dem Nein zur Kirche und zur Religion wird dann sehr schnell ein Nein zu Jesus und zur Frage nach Gott überhaupt.

Wohin sollen sich fragende und suchende Menschen dann noch wenden? Es eröffnet sich auf Zukunft hin ein ganz neues, unbearbeitetes Feld. Es gilt sozusagen ein noch unbekanntes Land zu betreten. Die Wege dorthin können die Menschheit in die Öde und Verwüstung führen; sie können aber auch die Erinnerung wachrufen an den Bund, den es immer schon gab zwischen Schöpfer und Schöpfung, zwischen Gott und Menschen. Die Welt von heute steht nicht nur politisch, wirtschaftlich, kulturell... in revolutionären Umwälzungsprozessen, sondern auch religiös und christlich. Das Evangelium des Lukas berichtet, daß Jesus bei der Ankündigung der Zerstörung Jerusalems weinte. Dieselbe Mahnung könnte heute auch an die Kirchen gerichtet sein: "Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest, was dir Frieden bringt. Jetzt aber bleibt es vor deinen Augen verborgen" (Lk 19.42).

2. Die Botschaft Jesu: eine ethische Herausforderung.

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, der "modernen Skepsis" gegenüber den Sakramenten nachzugehen. Deren "Siebenzahl" taucht erstmals bei Petrus Lombardus (gest.1160) auf und kirchenamtlich auf dem Konzil von Lyon (1274). Bis heute hat sich bei den Theologen längst der Konsens angebahnt, daß die Sakramente "nur in einem sehr eingeschränkten Maße" auf Jesus zurückgeführt werden können (Wohlmuth).

Was bei der Frage nach der Kirche gesagt werden muß, gilt analog auch für die Sakramente: aufgrund ihrer allmählichen Entstehung und Entwicklung verlieren sie nicht ohne weiteres ihre Existenz-berechtigung; sie können durchaus als Zeichen des dynamischen Heilshandelns Gottes an der Menschheit verstanden und praktiziert werden; sie vermögen durchaus - für die Kirchen und gläubige Christen - als Zeichen des von Jesus verkündeten Reiches Gottes ihre Bedeutung haben. Entscheidend aber bleibt die Frage: wenn "Kirche" und "Sakramente" nicht die zentralen Anliegen der Verkündigung Jesu waren - was wollte er dann? Wo lagen seine Schwerpunkte?

Diese Fragen stellen sich umso dringlicher, je mehr es deutlich wird, daß die bisherigen Versuche einer Antwort an ihre Grenzen gestoßen sind und stoßen. Die Versuche sind zahlreich genug. Sie lauten: dogmatische Reflexion des Glaubens mit dem Ziel, die "Wahrheit" zu erkennen und diese gegenüber anderen zu behaupten. Hinzu kommt die kirchenrechtliche Absicherung von Disziplin und Ordnung im Gesamten der Kirche bis in jede Gemeinde hinein. Auffällig und unübersehbar wurde die hierarchische Repräsentation christlicher Anliegen durch Papst und Lehramt, Kardinäle, Bischöfe und Klerus. Dazu das gläubige Volk, welches dazu erzogen werden soll, im Glauben anzunehmen, was lehrreich an es herangetragen wird.

Alle diese Mechanismen der Absicherung des christlichen Anliegens erwecken heute den Eindruck, daß sie in eine fundamentale Krise geraten sind. Sie vermögen sich nur in einem sehr eingeschränkten Maße auf Jesus zu berufen. Zudem herrscht allgemein die Erfahrung vor, daß Glaube und Nachfolge nicht identisch sind mit theologischer Spekulation, moralischen Postulaten und Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung. Diese können sogar Ausdrucksformen eines religiösen Egoismus sein, einer selbstgefälligen Ich-Bespiegelung - verbunden mit dem Anspruch auf religiöse Vormundschaft über andere.

Wenn E. Kant Recht hat, ist es meistens nicht im Sinne der "Vormünder", daß Menschen ihre "selbstverschuldete Unmündigkeit" überwinden. Vormünder würden sich selbst verlieren, wenn die Unmündigen aufhörten, unmündig zu sein. So entwickeln sie oft schwer durchschaubare Mechanismen der Gängelung und Unterordnung, des Gehorsams und der Treue-Gelöbnisse. Diese werden nicht dadurch annuliert bzw. aufgehoben, daß gleichzeitig von "Freiheit" und "Verantwortung jedes einzelnen" gesprochen wird. Im Gegenteil: solche Reden verdecken eher den wahren Sachverhalt.

Was die von Gott kommende Wahrheit betrifft, so scheint diese nicht geeignet, daß Menschen eigene Gedanken und eine persönliche Gewissenhaftigkeit darüber entwickeln - es sei denn, daß sie das uneingeschränkte Ja-Sagen dazu lernen. Denn "die Wahrheit" würde nur aufgeweicht und beliebig interpretierbar, wenn Menschen eine "eigene Meinung" dazu entwickeln. So kann auch der "wahre Glaube" keiner Abstimmung unterliegen; er kann nicht "Mehrheitsverhältnissen" zur Disposition gestellt werden - "Plausibilitäten", auf die sich herkömmliches Denken beruft. Die Frage stellt sich nur: wie versteht Jesus "Wahrheit"?

Allen Widerständen zum Trotz muß sich heute wieder die Erkenntnis durchsetzen, daß Jesus keine dogmatischen Wahrheiten verkündet und keine kirchenrechtlichen Vorschriften erlassen hat. Er hat seine Lehre auch nicht zuerst den Akademikern und Theologen der damaligen Zeit anvertraut, sondern einfachen Handwerkern und Fischern, Männern und Frauen aus dem Volk. Seine Ethik war auch keine fachmännische und amtliche, die erzieherisch und moralisierend auf die Menschen einzuwirken versucht. Seine "Ethik" war eher eine erfahrungs- und lebensbezogene, die jeder Mensch in seiner Situation nachzuvollziehen vermochte. Sie war im Grunde eine Ethik der offenen Augen und Ohren, die die Menschen befähigte, ihre Welt- und Lebensverhältnisse so zu sehen, wie sie sind. Dazu kamen die beispielhaften Verhaltensweisen Jesu, die deutlich machten, wie das Leben von Menschen gottgemäß und gottgewollt gestaltet werden kann: in Liebe, Gerechtigkeit, freier Entscheidung und Mündigkeit.

Jesus hat den Menschen keine schwer zugänglichen ethischen Fortbildungskurse verordnet, sondern er hat an konkreten Beispielen deutlich gemacht, wie zum Wohl der Menschen und zum Frieden in der Welt "Reich Gottes" schon jetzt wachsen kann und wachsen muß. Da ist der "barmherzige Samariter", in dessen Tagesplan die Begegnung mit dem unter die Räuber Gefallenen nicht vorgesehen war (Lk 10.25-37); da ist die Frau am Jakobsbrunnen, der ganz neue Lebensperspektiven eröffnet werden (Joh 4.1-26); da ist der heidnische Hauptmann aus Kapharnaum, dem mehr "Glaube" zugestanden wird als den Gläubigen Israels (Mt 8.5-13); da ist die Aufforderung zum "Einer trage des anderen Last" (Gal 6.2); da ist die Zusicherung: "wer ein Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf" (Mt 18.5); da wird am Beispiel der Sünderin deutlich gemacht: ihr werden viele Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat (Lk 7.36-50); da ist nicht vom "Theologisieren" die Rede, sondern vom "Tun der Wahrheit", was zum Licht führt...(Joh 3.21).

Auf jeder Seite der Bibel kann signifikant nachgelesen werden, welches die eigentlichen Anliegen Jesu waren. Man kann sie als Herausforderung an jeden Menschen verstehen, mit offenen Augen und Ohren sehen und hören zu lernen. Um eine heilere und erlöstere Welt "schon jetzt" in Gang zu setzen, hat sich Jesus "ein Volk von Priestern" erworben (1 Petr 2.9) - dazu beauftragt und befähigt, je nach Gabe, Fähigkeit und Charisma eine gemeinsame Würde und Gleichheit aller Gläubigen zu praktizieren (Gal 3.28). Letztlich geht es immer um das Tun der Wahrheit, um die Realisierung humaner Werte - was nicht gleichzusetzen ist mit "Horizontalismus" und "Humanismus", nicht mit "innerweltlicher Utopie" als Zielpunkt. Alles menschliche Tun steht vielmehr im größeren Zusammenhang der endgültigen Vorhaben Gottes mit der Welt. Die Menschheit lebt und handelt aus der Hoffnung auf die Verwirklichung dessen, was Gott auf Zukunft hin mit der ganze Schöpfung vorhat (Röm 8.18-30; Kol 1.12-20).

3. Der "neue Geist", das "neue Denken".

Im April 1946 beendete der niederländische Historiker Jan Romein seine Besprechung des Tagebuches der Anne Frank mit den Worten: "Daß dieses Kind überhaupt verschleppt und ermordet werden konnte, ist für mich der Beweis genug, daß wir den Kampf gegen die Bestialität verloren haben. Wir haben ihn verloren, weil es uns nicht gelungen ist, etwas Positives an deren Stelle zu setzen. Und deshalb werden wir auch künftig unterliegen. Welche Gruben auch immer die Inhumanität uns graben mag - wir werden ihr in die Falle gehen, solange wir nicht imstande sind, die Inhumanität durch eine positive Kraft zu ersetzen".

Dieser Satz behält bis heute seine volle Gültigkeit. In der Zwischenzeit wurde viel über Auschwitz geschrieben und nach-gedacht. Viele andere Formen des "Holocaust", wie sie sich in der Geschichte zugetragen haben und bis heute blutige Spuren hinterlassen, haben sich tief ins (Unter) Bewußtsein der Völker eingegraben. Damit auch das Mißtrauen gegenüber (allen bisher vorgetragenen) Ideologien und auftretenden "Autoritäten" - ganz gleich, aus welchem Lager sie stammen. Die oben postulierte positive Kraft gegenüber allen Formen der Inhumanität scheint durch sie nicht überzeugend in Sicht.

Gewiß: angesichts der neuen Bedrohungen der Menschheit durch den Kampf der Kulturen wird immer wieder der Dialog postuliert und praktiziert. Es sei auf jeden Fall besser, miteinander zu reden, statt sich in böses Schweigen zu vergraben oder aggressiv gegeneinander loszugehen. Trotzdem wurde auf dem "Ökumenischen Kirchentag in Berlin" (2003) vor der Gefahr einer interreligiösen Schummelei gewarnt. Denn wer in einer Religion behaupte, ein "Wahrheitsmonopol" zu besitzen und trotzdem einen "Dialog" führe, sei nicht aufrichtig. Manche Religionen kämen aber mit einem solchen Anspruch. Sie würden behaupten, daß die Wahrheit ihrer Religion identisch sei mit der Wahrheit von Sätzen, über die man "oberflächliche Gemeinsamkeiten" herbeirede - sozusagen auf der Ebene "religiöser Gipfeltreffen hinter verschlossenen Türen", während in den Städten Indifferenz, wechselseitige Vorurteile und nicht selten blanker Haß wachsen und gedeihen.

Bei solchen Bedenken wird unverhohlen zugegeben: es bleibt alles oberflächlich, seicht, elitär, wenn sich nicht der Tatsache Rechnung getragen wird, daß die Wahrheit einer Religion eine Beziehungswahrheit ist, die von verschiedenen Menschen und Völkern unterschiedlich gelebt und artikuliert werden kann. Menschen-, zeit- und situationsbedingt kann sie wohl nie endgültig in feste Sätze verpackt werden.

Im Blick auf die vielen Greueltaten der Geschichte hat der Philosoph Leonhard H. Ehrlich bereits vor Jahren die Vermutung geäußert, sie seien "vielleicht nicht christlich-theologisch gewollt", wohl aber "christlich theologisch bedingt" gewesen. Sein Resümee lautet: "Vieles wäre gewiß anders gekommen, wenn das kirchliche Christentum den Mut gehabt hätte, aus den Quellen des Christentums heraus zu leben". - Steckt dahinter der geheime Vorwurf, es habe zu sehr aus den Quellen heraus gedacht statt daraus zu leben?

Wenn der Philosoph Emil Falkenstein meint, mit Auschwitz (und den vielen anderen Formen von Auschwitz) sei das Christentum gestorben, dann genügt es nicht, öffentliche Schuldbekenntnisse abzulegen, wie Papst und Bischöfe es tun. Die Frage stellt sich, ob das herkömmliche dogmatische und kirchenrechtliche Denken nicht jene "christlichen Dispositionen" schafft (ohne sie zu wollen), die intolerantes, rechthaberisches, missionarisch-eroberndes Verhalten fördern? Die Frage muß erlaubt sein, ob solche Dispositionen geeignet sind, "aus den Quellen des Christentums heraus... christlich leben und handeln zu lernen"?

Wenn heute Kommentatoren und Kritiker den Kirchen und Konfessionsgemeinschaften die Rückkehr zum Kerngeschäft anraten, dann kann diese Rückkehr nur darin bestehen, daß man sich in das "Getümmel der Welt" begibt und sich mit denen solidarisiert, die im Getümmel der Welt leben. Hier ist Christentum auf die Probe gestellt. Im kleinen Kreis von Gläubigen, im vertrauensvollen Gespräch über Not und Segen der biblischen Botschaft kann wieder das geschehen, was heute nottut: Gläubige müssen sich wieder ihres eigenen Glaubens vergewissern lernen. Bei ruhiger, aufrichtiger und engagierter Selbstbefragung vermögen sie aufeinander zu hören und zu verstehen - auch Andersgläubige, ohne die erkannten Vorzüge der eigenen Tradition leugnen zu müssen. Solche Formen religiösen Miteinanders, die sich vom Scheinwerferlicht ausgeleuchteter Podien wesentlich unterscheiden, vermögen den neuen Geist, das neue Denken des Evangeliums zum Wachsen zu bringen. Dadurch kann es - auf lange Sicht - wieder gelingen, daß der "Sauerteig der Botschaft" in der Welt wieder Kraft entfaltet.

Um der Botschaft des Evangeliums eine Zukunft zu sichern, bedarf es nicht so sehr der Menschen mit eitlem akademischen Anspruch; auch nicht bischöflicher Palais mit byzantinischem Gepränge; auch nicht gewaltiger Kathedralen als religiöse Vorzeige- bzw. Prestige -Objekte, nicht sakramentale Abfertigungshallen... Es bedarf viel mehr der Menschen, die über ein hohes Maß an Sensibilität und Flexibilität über das verfügen, was ihnen selbst zum Heil und der Welt zum Frieden dient.

Es bedarf handfester Lebens- und Gemeinschaftsmodelle, in denen gegenseitiges Vertrauen, Offenheit, der Sinn für Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit wachsen. Wahrscheinlich braucht man gar nicht damit anzufangen, was in der Gerichtsrede Jesu (Mt 25.31-45) als unverzichtbar postuliert wird. Solche "Werke der Barmherzigkeit" sind in unzähligen Familien und Gemeinschaften zu finden. Nur müßten sie in der Sprache der Kirchen und ihren Liturgien "das Sagen" bzw. die notwendige Öffentlichkeit bekommen - allerdings zum Nachteil der "Klugen und Weisen". Denn es war am Anfang schon so: was Gott den Klugen und Weisen verborgen hat, das offenbart er den Unscheinbaren, den Entrechteten, den Kranken und Sündern (Mt 11.25). Den Klugen und Weisen kann nicht genug das Wort Jesu in Erinnerung gerufen werden: "Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob" (Mt 21.16).


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