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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Kleines Handbuch christlicher Lebensführung (VII):
Fasten- und Osterzeit: „In Krisenzeiten lernen, was Leben ist“.

April 2007

In der Fasten- und Osterzeit lassen sich religiös orientierte Menschen – mehr als sonst im Laufe des Jahres – mit der Frage nach Leben und Tod konfrontieren. Also mit der Frage nach der eigenen Vergänglichkeit. Das Christentum wie auch andere Religionen bereiten sich und die Menschen auf das vor, was immer erfahrbar ist, aber auch zu jeder Zeit auf sie zukommen kann: nämlich Krankheit, Leid, Tod... Dagegen steht die Spaß- und Konsumgesellschaft. Sie macht den Menschen etwas vor: den Glauben an die ewige Jugend und Gesundheit. Massen im Konsumrausch lassen sich darauf ein und sich eine Menge kosten – bis der Tag anbricht, an dem die Krisen hereinbrechen wie Diebe in der Nacht... An ihnen können Menschen scheitern, aber auch ein verändertes, geläutertes Leben finden.


1. Wissen: was man nur in Grenzerfahrungen lernen kann.

"In Krisenzeiten lernen, was Leben ist". Inspiriert zu solchem Thema hat mich der rumänische Schriftsteller Emil Michel Cioran. Die Südd. Zeitung hat ihn 1995, anlässlich seines Todes als 84-jähriger in Paris, einen "illusionslosen Skeptiker" genannt. "Illusionslos", weil er sich sein Leben lang nichts vormachen wollte von herrschenden und die Menschen beherrschenden Ideen und Systemen, Ideologien und Weltanschauungen, Wahrheits-ansprüchen und Fanatismen. Er hat allen Ambitionen gesellschaftlicher und religiöser Art, die den Menschen nicht zu sich selbst kommen lassen, den Kampf angesagt. "Er war einer" – so die Südd. Zeitung - , "der mehr wusste als andere; ein Eingeweihter in jenes Wissen, das man nirgends lernen kann...". Und doch kann man es lernen: in Krisenzeiten, im Tod. Deshalb "war er verliebt in den Tod, und er tat nichts, um ihm zu entgehen. Ein Leben lang lernte er vom Tod, was Leben heißt". –

Man braucht kein Todesmystiker zu sein, kein Franz von Assisi, der im "Sonnengesang" den Tod als seinen geliebten Bruder erkannte. Es genügen schon Krankheiten und Krisenzeiten, die dem Menschen den Zugang zu einem Wissen eröffnen (können), das man sonst nirgends lernen kann. Krisenzeiten sind dazu angetan, den Menschen auf Gedanken zu bringen, auf die er normalerweise nicht kommt. In Krisenzeiten lernt der Mensch die Wahrheit über sich selbst; über den Zustand der Welt. Wenn man auch keinem Menschen Leid und Not gönnen bzw. wünschen darf, so erweisen sich doch Grenzerfahrungen als geeignete Mittel, dem Menschen wahrhaftig und unverschleiert deutlich zu machen, wo er "dran" ist mit sich selbst; welches sein wirklicher Zustand ist in der Welt...

2. Der Hang zu einer Gesellschaft von Siegern.

Dabei gaukelt uns die Welt, in der wir leben, ständig das Gegenteil von "Grenzerfahrungen" vor. Schon die Lieder zu den Olympischen Spielen in Griechenland waren immer nur Sieges- und Preislieder. In ihnen wurden die Sieger in den Wettkämpfen (Laufen, Faustkampf, Wagenlenken...) gefeiert. Der Ruhm der Sieger sollte ewig währen. Über die Verlierer gab es keine Lieder und Gedichte. "Wehe den Besiegten", haben die Römer später gedroht. Daß es auch ein Verlieren gibt und geben darf: im Sport, in Kriegen und Krankheiten, im Tod – ein solches Thema, obwohl es ein Thema des Lebens ist, wird bis auf den heutigen Tag weggeschoben und verdrängt. Darüber wird nicht gesprochen, obwohl wir dazu verurteilt sind, dass man auch verlieren können muss. In allen Lebensbereichen ist es unaufhebbar so: im Kindergarten, in der Schule, im Beruf und im Sport, in Ehe und Familie...

Dennoch wird so getan, als wäre der siegreiche Wettkampf das einzige Modell für das Leben. Dann hängt vom Siegen und Gewinnen der persönliche Wert des Menschen ab. Seine Identität findet er nur, wenn er seine Arbeit gut macht; wenn ihm alles gelingt und er gelobt wird. Soziale Anerkennung motiviert wiederum zu guten Leistungen. Die ganze Gesellschaft baut auf Leistungsbereitschaft und Erfolg. Der Einzelne muss sich ständig beweisen. Er nimmt die Normen auf, die Gesellschaft und Wirtschaft ihm auferlegen. Sie heißen: besser sein als andere, fachgerechter, schneller... Das Bedürfnis nach Selbstbestätigung meldet sich dabei, nach Selbstbehauptung, Prestige, Macht und Ansehen. Die Wirtschaft beruht zum großen Teil auf Wachstum, Erfolg und Vorwärtskommen. Je mehr das der Fall ist, desto nachhaltiger ist es erforderlich, dass Verlierer unbarmherzig ausgeschaltet werden. Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz, geraten an den Rand der Gesellschaft, fallen in die soziale Bedeutungslosigkeit...

3. "Individualisierung" als Dialektik von Siegen und Verlieren.

Brüche und Umbrüche im Leben eines Individuums, die nicht beabsichtigt und nicht vorhersehbar sind, die sich als endgültig und irreparabel erweisen, können zu Selbstvorwürfen Anlass geben, zu seelischen Verletzungen, zu psychischen Traumatisierungen, zu inneren Zusammenbrüchen (Depression, Alkoholmissbrauch, Drogenkonsum, Suizid...). Sie bieten aber auch die Chance zu fragen: inwieweit wurde ich fremdbestimmt? Inwieweit wurden mir dauernd Ziele und Werte eingeredet, die nicht meine eigenen sind? Inwieweit wurden in mir Illusionen für das Leben gezüchtet, die die Schattenseiten verbargen?

Je nach Erziehung und Lebenssituation bedarf es anscheinend eines langen Weges, um zu begreifen, was die Psychologie nüchtern als "kritische Lebensereignisse" beschreibt: als Krisen, Erfahrungen einer Grenze, als Enttäuschung überhaupt. Sigismund Freud hat mit Recht von der Notwendigkeit einer "Trauerarbeit" gesprochen. Sie muß die Folge jeden Verlustes sein.

Welches könnte das Ziel solcher "Trauerarbeit" sein? Statt stumpf und unempfindlich werden; statt verdrängen und wegschauen sind das Weitergehen erforderlich, der aufrechte Gang. Bei allem Verlieren muß man unbesiegbar bleiben können. Ein berühmtes Beispiel über die Dialektik des Siegens und Verlierens findet sich in Ernest Hemingways Roman "Der alte Mann und das Meer". In dieser Geschichte erzählt Hemingway von dem Fischer, der lange nichts gefangen hat und trotzdem jeden Tag hinausfährt, weil er auf den großen Fang hofft. Endlich beißt ein Fisch an. Es muß ein großer sein, wie er es am gewaltigen Zug der Leine spürt. Ein tage- und nächtelanger Kampf beginnt. Der Alte spricht mit dem Fisch, den er bewundert, obwohl er ihn töten muß. Schließlich kann er den riesigen Schwertfisch erlegen und am Bord vertäuen. Aber dann kommen die Haie. Zuerst einer, dann viele. Sie fressen stückweise den Fisch weg, bis nur noch das Gerippe übrig ist. Während des Kampfes hat sich der Alte oft gesagt: Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben! Als er todmüde am Morgen ans Ufer kommt, sehen die anderen Fischer, was geschehen ist. Er muß sich fragen lassen, ob er nicht zu weit hinausgefahren ist. Zuletzt heißt es dann: Der alte Mann schlief und träumte von den Löwen, die er einmal vor langer Zeit an der afrikanischen Küste gesehen hatte und die ihm während des Kampfes um den Fisch eingefallen waren. Dem alten Mann wurde also viel genommen. Aber er bleibt im Verlieren unbesiegt. Er träumt von den Löwen!

Hemingway hat hier eine Geschichte geschrieben, die das ganze Leben meint. Das wirkliche Verlieren gibt es eben auch. Es darf nicht vergessen werden, auch wenn äußere Umstände es immer wieder vergessen machen. Dabei stellen sich die Fragen: wie reagiert der Mensch auf kritische Lebensereignisse? Welche Prozesse des Verarbeitens gibt es?

4. Die Fähigkeit zu trauern.

Wenn wir hier von der Möglichkeit des Zerbrechens – womöglich mit tödlichem Ausgang – absehen, so kann man jede Krise als Bewährungskrise verstehen. Eine Krise fordert heraus, zwingt zu Veränderungen. Man stellt sich ihr dergestalt, dass Entscheidungen getroffen werden müssen. Neue Weichenstellungen werden nötig – Korrekturen am herkömmlich Gewohnten, die zugleich Aufbruch zu neuen Ufern und realistisch formulierten Hoffnungen bedeuten. Sofern dies einigermaßen gelingt, kann der Durchgang durch eine krisengeschüttelte Zeit ausgehalten und bewältigt werden – vorausgesetzt, dass der Übergangszustand nicht zu lange dauert und die Kräfte überfordert. Mitten in der Entmutigung müssen Hoffnungssignale gesetzt werden. Wer könnte das besser als derjenige, der selbst voller Lebenswillen ist; der selbst die Niederungen des Lebens erfolgreich durchschritten hat?

Bei krisengeschüttelten Menschen gibt es auch die Möglichkeit des Perspektivenwechsels. Bisher ungedachte Gedanken tauchen auf, neue Lösungen, neue Sichtweisen. Was im bisherigen Leben als unverzichtbar und unendlich wichtig galt, verliert an Bedeutung. In der Erfahrung des Sich-Trennen-Müssens, des Loslassen-Müssens stellt sich die Frage nach dem Wesentlichen. Sie führt in die eigene Mitte: wer bin ich eigentlich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was habe ich bisher aus meinem Leben gemacht? Was habe ich versäumt und was muß ich in Zukunft anders, besser machen, damit ich dessen Sinn erkenne?

Aus dem Verlieren kann also gelernt und gewonnen werden. Menschen erfahren Neues über sich selbst, indem sie gezwungen sind, in die Tiefe ihres eigenen Selbst vorzudringen. In vielen Biographien gibt es Passagen des Lebens, die auf veränderte Lebenskonstellationen hinauslaufen. Sie zeigen, dass der Mensch viele Wahrheiten über sich selbst nicht in Büchern und Broschüren findet, sondern in Nöten und Niederlagen. In den Schüben des Loslassen-Müssens und des Sich-Distanzierens von sich selbst stürzen die bisherigen Götzen: der Wille zum Erfolg, zum Haben und Besitzen, zum Genießen und zum gierigen Ausschau-Halten nach Vorteilen, die schon bald von den Motten zerfressen werden.

Der Tiefenpsychologe C. G. Jung hat gerade in Krisenzeiten in der menschlichen Seele einen "Archetyp des Gottesbildes" ausgemacht, einen "religiösen Trieb", der, einmal geweckt, alle anderen Motive und Antriebe einbindet und orientiert. In bestimmten Lebenslagen bricht also so etwas auf wie die Sehnsucht und Leidenschaft nach Transzendenz. Das Faktum des Gewinns mitten im Verlust und in Verlierergeschichten läßt sich hundertfach aus der Geschichte der Religionen belegen. Es findet sich ebenso hundertfach in der Bibel: bei König Saul, Elija, Hiob...Auch Paulus ist zu nennen. Er spricht davon, dass wir den "Schatz des Lebens" in tönernen Gefäßen haben (2 Kor 4.7). Er wird nicht müde zu betonen, dass sich in den Brechungen des Lebens die Kraft des ganz Anderen durchsetzen will; denn "Brechungen" sind "weglos, aber nicht ausweglos". Er schreibt: "Obwohl ich von allen Seiten bedrängt bin, werde ich nicht erdrückt. Obwohl ich oft nicht mehr weiter weiß, verliere ich nicht den Mut" (2 Kor 4.8). –

Der Tatsache, dass wir vom Tode gezeichnet sind und wie Sterbende dahinsiechen, setzt er ein wuchtiges "Trotzdem" entgegen (2 Kor 6.9). Im Buch Hiob wird mitten in der Bedrängnis die Frage gestellt: Woher kommt es, dass ich nicht gebrochen bin und dass ich eine Zuversicht habe? Wieso bin ich in meiner Niederlage nicht am Ende? Die Antwort, die sich übrigens auch in Händels "Messias" wiederfindet, lautet: "Ich weiß, dass mein Erlöser lebt". -

5. Der erweiterte Horizont der Religion.

Bei religiös eingestellten Menschen ist die Antwort auf einen Verlust offensichtlich genauso blutig und konfliktgeladen wie bei anderen, jedoch perspektivenreicher. Denn der Mensch offenbart sich als ein transzendenz-orientiertes Wesen. Wie auch immer – in allen Jahrhunderten – dieser transzendenz-orientierte Mensch zuständig und verantwortlich ist für die Existenz der Religionen überhaupt – hinter jeder "Wiederkehr der Götter" auch in unserer Zeit steckt das Uranliegen, zu einem tieferen Verständnis des Menschseins zu gelangen. Ein Indiz dafür ist allein die Tatsache, dass Schmerzen und Niederlagen dabei nicht ausgelassen werden. Im Mittelpunkt des christlichen Selbstverständnisses steht dabei das Kreuz bzw. alle Kreuze der Welt – als Zeichen des Todes und des Sieges, was der Aufforderung gleichkommt, den Kampf gegen das Leiden aufzunehmen. Dabei verändert sich der Mensch. Es erwacht in ihm die Kraft zur Konfliktfähigkeit und Gewaltlosigkeit.

Johannes Kuhn schreibt über den Wert von Lebenskrisen, in denen eine die Person stärkende Bereicherung liegt: "Es kommt darauf an, ob ich in dem ES der Krise nur einfach eine Hand spüre, die bedrohlich nach mir greift, oder ob ich aus dem ES meines Schicksals heraus das Gesicht eines Gottes erkenne, dem ich vertrauen möchte. Der sich mir in dieser Krise zu erkennen gibt, so dass aus dem ES ein DU wird. Aus dem unheimlichen Schicksal ein Gegenüber, das ich ansprechen kann. Dem ich meine Angst in die Ohren schreien kann und meine Hoffnung: ich lasse dich nicht, du segnest mich...". -

Wo das ES zum DU wird, trifft der Mensch in das Herz jeder monotheistischen Religion, auch des christlichen Selbst- und Weltverständnisses. Von Jesus wird berichtet, dass in Gethsemani, auf Golgotha, "seine Stunde" gekommen war. Da betet er "unter lautem Schreien und Rufen". Aber Gott läßt den Kelch nicht vorübergehen. Das wird "seine Stunde". Der Augenblick der tiefsten Ohnmacht, das Leiden in äußerster Erniedrigung werden zu einer Zeit des Bekenntnisses: dein Wille geschehe! In solcher Anbetung und Ergebung in den Willen eines anderen geschieht das Wunder der Verwandlung. In der Hoffnung auf einen ganz Anderen liegt das unbesiegbare Versprechen der Erlösung und der Auferstehung. Wo die Nacht am schwärzesten, da meldet sich ein neuer Morgen; wo die Not am größten, da wird der Mensch in eine neue Wachheit geführt. Es wächst die Hellhörigkeit für eine Stimme, die im Lärm des Alltagsgeschehens nicht zu vernehmen ist. Es geht eine Ahnung auf von einer Macht, die jenseits aller menschlichen Möglichkeiten liegt.

6. Die Annahme seiner Selbst als Lebensaufgabe.

Von dem Theologen und Religionsphilosophen Romano Guardini stammt das Wort: "Die Annahme seiner selbst... ist die vielleicht größte Herausforderung unseres Lebens". Er beschreibt die Zerrissenheit des Menschen von Anfang an und die Schwierigkeiten, mit sich selbst auszukommen. Da sind die Eltern und die konkrete Umwelt, in die jemand hineingeboren wurde und die man sich nicht aussuchen konnte. Da zeigt sich der Wille zum erfüllten Leben mit seinen Grenzen und Hürden, mit Fehlern und Schwächen. Hinzu kommen die Lebenskrisen, Krankheiten und Katastrophen... Vieles veranlasst den Menschen allzu leicht, auf der Flucht vor sich selbst zu sein. Er flieht in falsche Versprechungen, Illusionen, Märchen und Tagträume. Er wird Opfer von Schlagzeilen und so oder so gearteten Rattenfängern, die ihn ins Schlepptau nehmen. Meistens muß es zu schweren Enttäuschungen und Krisen kommen, bis die Bereitschaft wächst, die Annahme seiner Selbst als Aufgabe zu begreifen.

Ohne noch fliehen zu wollen oder zu können, wird der Mensch konfrontiert mit seiner eigenen Realität, die möglicherweise am schwersten zu verkraften ist. Denn er muß begreifen, wo er wirklich "dran" ist mit sich selbst. Ohne sich weiter Masken aufzusetzen, um die eigene Wirklichkeit zu leugnen; ohne sich auf gesellschaftliche Täuschungsmanöver, Konsum- und Spaßspiele einzulassen, lernt er, sich selbst und den eigentlichen Zustand der Welt zu durchschauen. Es entwickelt sich so etwas wie ein nüchterner Realismus, der ihm sagt, dass Vieles vergänglich und eitel ist. Niemand weiß eigentlich so richtig, was die Welt im Innersten zusammenhält...

7. Leben vor dem Tod – Leben nach dem Tod (?).

Als jemand, der sich ein halbes Jahrhundert lang mit den Natur- und Weltreligionen beschäftigt hat, frage ich mich immer wieder, wie eigentlich Religionen entstanden sind; warum es sie immer noch gibt? Auch in den heutigen Gesellschaften wird vermehrt von der "Wiederkehr der Religionen" gesprochen, von der "Wiederkehr der Götter". Das ist umso erstaunlicher, als wir in einer Gesellschaft leben, für die alles menschlich machbar ist: auch die Überwindung von Krankheiten, von Alter und Gebrechen aller Art. Oder ist der Glaube an die Erfüllbarkeit aller Wünsche im Schwinden begriffen?

Die Griechen hatten bereits den nötigen Realismus, um zu der Erkenntnis zu kommen, dass "Pathos" gleich "Mathos" bedeutet. "Leiden ist Lernen". Durch Alter und Krankheit lernt der Mensch, dass er nicht der Souverän seines eigenen Lebens ist. Er verdankt sich nicht selber. Er lernt die Grundzüge aller Humanität: Abhängigkeit und Bedürftigkeit. Mitten in der Erfahrung solcher Begrenztheit und Abhängigkeit geht ihm die tragende Last der Verantwortung für sich selbst verloren. In der Hoffnung auf etwas ganz Anderes oder jemand ganz Anderen vermag er in Ergebung zu sagen: ich muß nicht der Gesündeste, der Stärkste, der Schönste, der Erfolgreichste sein.... Damit tritt er – vielleicht ohne es selbst zu merken – in das Zentrum allen religiösen Denkens ein.

So findet sich in der heutigen modernen Welt ein seltsames Paradox: während die Allgemeinheit nach ewiger Gesundheit und Jugendlichkeit schreit, werden Einzelne immer wieder mit dem Schicksal der Endlichkeit und Begrenztheit konfrontiert. Während die einen meinen, wie Gott zu sein, werden die anderen damit konfrontieret, nicht wie Gott sein zu müssen, um zu neuer Offenheit bereit zu sein. Die Fragen: wozu das alles? Warum gerade ich? Was hat das Leben überhaupt für einen Sinn? – Solche Fragen können zum Netzwerk des Atheismus werden. Sie können aber auch ein Weg zur Transzendenz werden: Ich bin auf der Welt, um empfänglich für Unbekanntes zu werden, um lernbereit und lernfähig zu werden für etwas Ungeahntes, Überraschendes, menschliche Verhältnisse Übersteigendes.

Vielleicht stimmt es also, dass der Mensch in Krisenzeiten am meisten lernt, bereit und offen zu sein: für die Kostbarkeit des Lebens vor dem Tod; für die Frage nach dem Leben selbst. Das Leben hat es an sich, leben zu wollen; es will nicht sterben. Ob solche Signale in eine entgültige neue Wirklichkeit führen? Religiöse Menschen glauben und hoffen es. Andere sagen: es wäre schön, wenn man es nur wüsste...

 


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