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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Pisa-Studien: es geht um Bildung, Erziehung, Personwerdung.

Wer sich bildet, verwirklicht sich selbst
Bildung ist weder "Indoktrination" noch "Ideologisierung".

März 2003

1. Zwei Themen: Selbstverwirklichung - Bildung

Eigentlich handelt es sich hier um zwei Themen und Anliegen: um "Selbstverwirklichung" und "Bildung". Ersteres ist schon schwierig genug. Das Wort "Selbstverwirklichung" ist heute in aller Munde; es ist sozusagen das Markenzeichen für den Wert und die Würde des Menschen überhaupt. Oft gilt es auch als Schlüsselwort für die Lösung aller Rätsel und Probleme des Lebens. Erfahrungsgemäß erweist sich dieses Zauberwort in seiner Verwirklichung als ein steiler Weg. Denn "Selbstverwirklichung" kann man nicht "machen", nicht produzieren, sich nicht einreden bzw. einbilden. Selbstverwirklichung muss verstanden werden als ein lebenslanges Lernen; als eine Aufforderung, nicht realitätsblind und -taub, sondern mit offenen Augen und Ohren durch die Welt zu gehen. Vor allem und an erster Stelle durch seine eigene Welt, indem man sich mutig den jeweiligen Herausforderungen des Lebens stellt. Sonst kann Selbstverwirklichung schnell ein Selbstbetrug werden, eine Selbsttäuschung, eine Lebenslüge. Angefangen bei der Aufarbeitung eigener Kindheitserfahrungen erweist sich Selbstverwirklichung weniger als ein direkt anzustrebendes Ziel. Eher stellt sie sich als eine Folge ein, als ein Nach-Wirkung, als ein "Nebenprodukt" dessen, was das Leben konkret von einem Menschen fordert. Was jedoch zunächst ein Nebenprodukt ist, erweist sich auf der Ebene des Bewußtseins und der Reflektion als Hauptsache: als das wachsende Ereignis persönlicher Stärke, innerer Kraft und realistisch angemessener Selbstsicherheit.

Was der Engländer WILLIAM SHAKESPEARE als "Reifsein ist alles" proklamiert, hat, wenn man genauer hinschaut, viel mit unserem zweiten Thema zu tun. Was ist "Bildung"? Vom Sprachgebrauch her drängt sich der Zusammenhang mit dem "Bild" auf, mit der Fähigkeit des Menschen, sich ein seinsgerechtes Bild zu machen über sich selbst, über andere, über den Zustand der Welt. Sofern diese zu lernende Fähigkeit es fertig bringt, sich selbst oder andere weder überzuschätzen noch unterzuschätzen; sich so oder so nichts vorzumachen, nicht zu täuschen oder täuschen zu lassen - über wen oder was es auch immer sei -, kann der eigene Lebensplan gelingen, sich als sinnvoll und sinnerfüllend erweisen. Der "Sinn des Lebens" stellt sich sozusagen beim Gehen seines Weges ein.

2. Das Sokratische Gespräch als Königsweg

Dass "Selbstverwirklichung" sehr viel mit "Bildung" zu tun hat; dass Bildung als ein Weg und Mittel verstanden werden kann, um zur Selbstverwirklichung zu finden, war in der Antike bereits ein wichtiges Erziehungsziel. Die Inschrift am Tempel des Apollon zu Delphi trägt dem Menschen auf: "Erkenne dich selbst". Den Griechen galt Selbsterkenntnis als Königsweg, um zu einem zufriedenen und glücklichen sowie sinnvollen und verantworteten Leben zu gelangen.

SOKRATES war ein Prototyp dieses Königsweges. Im sogenannten "Sokratischen Gespräch" versuchte er, seine Schüler und Anhänger zum ernsthaften Nachdenken und Sprechen über fundamentale Fragen des Daseins zu motivieren und zu stärken. Er ging dabei von den persönlichen, konkreten Erfahrungen der Einzelnen aus nach dem Motto: "Was denkst du dir selber dabei? Was hast du schon einmal erlebt und erfahren? Wo sind dabei Ängste, Zweifel, Ungewissheiten aufgetreten?" Auf diese Weise sollten Menschen zu tieferen Einsichten und zu gemeinsam gewonnenen Überzeugungen kommen.

Bei solchem Vorgehen waren keine besonderen Vorkenntnisse erforderlich. Die Sokratische Maxime bestand darin, dass jede / jeder von sich aus "Weisheit" und "Erkenntnis" in sich hat: gleichsam verborgen, unentdeckt, unentfaltet. Diese durch die Teilnahme am Gespräch zu heben, sozusagen wie einen verborgenen Schatz zu entdecken, war die Aufgabe. Sie diente der rechten Selbst- und Fremdeinschätzung, zur gegenseitigen Wertschätzung und dem Finden der "eigenen Wahrheit".

Es sei hier nur nebenbei erwähnt, dass heutige Psychologie und Pädagogik diesen Königsweg wieder entdeckt haben. Auch Filme propagieren ihn. Im "Club der toten Dichter" wird gezeigt, wie ein Lehrer in England seine Schüler zu diesem "Erkenne dich selbst", "habe Mut zu dir selbst" hinzuerziehen versucht. Dem Lehrer geht es ähnlich wie damals SOKRATES: äußerlich scheitern sie. Der Lehrer wird von der Schule verwiesen; SOKRATES wird gezwungen, den Giftbecher zu trinken und seinem Leben auf diese Weise ein Ende zu machen.

Das Schicksal beider ist bezeichnend für diesen "Königsweg". Man muss sich - um es zu verstehen - klar machen, auf welchem gesellschaftlichen Hintergrund dies passiert. Man könnte ihn kurz folgendermaßen charakterisieren:

  • Alle ergriffenen sozialen und pädagogischen Maßnahmen liefen letztlich darauf hinaus, das gesellschaftliche Gleichgewicht zu schaffen bzw. zu erhalten zwischen Individuen und Gemeinschaft. Den Autoritäten ging es darum, Menschen einzuführen in bestehende Ordnungsgefüge und Traditionen - sie zu sozialisieren und entsprechend zu indoktrinieren.
  • Den Einzelnen wurden durch Gesetz und Tradition ihre Rolle und Funktion im sozialen Gefüge zugeteilt: den Frauen und Männern, den Armen und Reichen, den Gebildeten und Ungebildeten, den Jugendlichen und Alten, den Priesterinnen und Priestern... Der auferlegten Rolle nicht zu genügen, bedeutete eine Gefährdung für den einzelnen wie für den Erhalt des Bestehenden.

Das "Erkenne ich selbst" des SOKRATES wie des Lehrers an der Schule führte weit darüber hinaus. Es wurde von den zuständigen Autoritäten als Bedrohung des Bestehenden wie auch als Kritik am Herkömmlichen empfunden. Tatsächlich konnte es zweierlei bewirken:

  • Die / der Einzelne konnte seine Rolle, Fähigkeit und Begabung anders verstehen lernen als es vorgesehen war, bzw. als es ihm vorgeschrieben wurde. Es wurde als Ungehorsam und Kompetenzüberschreitung geahndet.
  • Das Gleichgewicht liebgewordener Zustände wurde zerstört. Heutige Soziologen würden sagen: jeder Mensch und jede geistig-kulturelle Bewegung treten am Ende ihrer "dynamischen Aufbrüche" in eine Phase des "Denkens um des Denkens willen" ein. Gesetze, Statuten, Verordnungen, Buchstabenglaube... werden zu beherrschenden Imperativen. Diesen haben die Menschen sich unterzuordnen; dazu werden sie erzogen. Nicht umgekehrt: Gesetze und Verordnungen werden nicht mehr als Dienst am Menschen verstanden. Der Mensch im Gegenteil muss in ihrem Dienste stehen! Solche "Verhärtung im Guten" verhindert auf Dauer jede Weiterentwicklung. Geschichtliche Veränderungen und Herausforderungen werden nicht mehr als "Gebote der Stunde" erkannt. Ursprünglich dynamische geistige Aufbrüche versteinern. Sie werden repräsentiert durch "Zementköpfe". Sie dienen dem Leben und der Lebendigkeit der Dinge nicht mehr. Deshalb dienen sie zu nichts. Im irrigen Glauben, im Dienst einer guten Sache zu sein, bereiten gerade die Erhalter des Bestehenden ihrer eigenen "guten Sache" das langsame Sterben. Man könnte sie mit "Geisterfahrern" vergleichen. Diese fahren oft volles Tempo; sie sind gewandt und erfahren. Im geistigen Bereich sind sie vielfach Anführer; sie können Antreiber von Menschenmassen sein. Bei all ihren Vorzügen haben sie immer nur einen Fehler: sie fahren in die falsche Richtung.

3. Mechanismen religiöser und politischer Macht. Und der Tod Jesu.

Man könnte meinen, das Schicksal und der Tod des Schullehrers und des SOKRATES wären selten vorkommende Ausnahmeerscheinungen gewesen. In Wirklichkeit ziehen sich diese Mechanismen religiöser und politischer Macht durch die ganze Menschheitsgeschichte. Denn "Bildung" und "Selbstverwirklichung" sind immer gefährlich für ein Status-quo-Gefüge, für herkömmliches "law-and-order-Denken". Deshalb wird auch immer wieder versucht, Bildung und Selbstverwirklichung im Voraus zu bestimmen, durch Kriterien in eine autoritätshörige "Richtung" zu bringen und zu kanalisieren, um das Gefährliche daran von vorne herein zu verhindern.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass JESUS oft mit SOKRATES verglichen worden ist. Auch dieser sammelte Leute um sich, um diese mit seiner Botschaft vom "Sauerteig der Welt" und vom "werdenden Gottesreich" vertraut zu machen. Sein Fehler war es, dass er nicht die Pharisäer und damaligen rechtschaffenen Theologen zuerst dazu berief. Es waren die einfachen Leute, die Fischer, Handwerker, Sünder und Einflusslosen, Männer und Frauen, denen er eine Sendung und eine Berufung gab: als "Apostel" und Motoren einer "neuen Schöpfung", die nicht (mehr) von Menschenhand gebaut sein sollte. Nicht umsonst wurde Jesus umgebracht: von den religiösen und politischen Führern seiner Zeit! Man kann eine noch so abstrakt-verbrämte und verschleierte Theologie daraus machen: er starb als "Erlöser der Welt", als "Sühneopfer für unsere Sünden". Leider wird dabei bewusst oder unbewusst in Vergessenheit gebracht, dass er das herkömmliche Frömmigkeitsdenken störte, dass er die Autorität der selbstberufenen Gottesvertreter untergrub; dass er jedem Menschen eine eigene Kompetenz und Vollmacht zuerkannte und sich nicht scheute, dafür den Kreuzestod zu erleiden.

Der Tod Jesu und anderer bleibt exemplarisch für viele andere Schicksale. Aus der Alexandrinischen Zeit, also schon aus der Zeit vor Christus, ist bekannt, dass die damaligen Herrscher angesichts der brennenden Bibliothek von Alexandia nichts anderes zu sagen hatten als die Weisung zu erteilen: "Lasst sie verbrennen. Sie ist das Gedächtnis der Ruchlosen".

Die panische Angst, dass das Gedächtnis freier und selbständiger Denker und Geister in der Geschichte eine den Status-quo auflösende oder zumindestens verändernde Wirkung hervorrufen könnte, hat Diktatoren und Ideologen immer wieder zur Zerstörung des "Gedächtnisses der Ruchlosen" veranlasst. Man denke an die Bücherverbrennungen der Kommunisten unter LENIN und STALIN; an die der Nazis; an die Bücherverbote ("Index") und die Verwerfung ihrer Verfasser durch die katholische Kirche bis in unsere Zeit hinein; an das scharfe Verdikt des Kölner Kardinals noch im Jahr 2002 gegen alles, was Laienverbände - weil sie ja nur "Laien" sind und sich zu wenig vom Klerus bestimmen lassen wollen - denken und tun.

Bezeichnend für solche und ähnliche ideologische Kämpfer ist nicht nur, dass sie sich hundertprozentig mit ihrer Ideologie identifizieren. Ihre Menschenwürde und Persönlichkeit stehen und fallen mit dieser Identifizierung. Würden sie in der Lage sein, ihre absoluten Behauptungen zu relativieren und aus der Distanz selbstkritisch zu beurteilen - was für geschichtlich denkende Menschen eine ziemliche Selbstverständlichkeit ist - , würden sie sich selbst aufgeben. Sie stünden bloß und nackt da: vor sich selbst wie vor der Öffentlichkeit. Sie spüren sich instinktiv in ihrem "Personkern", der keiner ist, gefährdet, wenn ihnen Andersdenkende über den Weg laufen und den Anschein erwecken, ihre äußere Kostümierung durchschaut zu haben. Unfähig zum Umdenken und zum Lernen aus der Geschichte, werden sie bei jeder äußeren Fragestellung aggressiv und kämpferisch. Auch dann noch, wenn die Fakten bereits lange gegen sie sprechen; wenn sie bereits mit dem Rücken zur Wand stehen. So werden sie zu tragischen Figuren der Geschichte. Sie zerstören selbst die Sache, zu deren Festschreibung und Verteidigung sie ihre Kräfte aufbieten. Sie dienen nicht mehr den Anliegen, die sie auf ihre Fahne geschrieben haben. Sie dienen schließlich nur noch sich selbst: ihren Ängstlichkeiten, ihren seelischen Verkrampfungen, ihrer geistigen Erstarrung.

Letztlich können sich an solchen Wendepunkten der Geschichte, in denen das Alte zu Ende geht und das Neue für die meisten nur keimhaft, fragmentarisch und ohne klare Konturen zum Vorschein kommt, nur die behaupten, die den Mut zur Bildung und Selbstverwirklichung bewahren. Oft sind sie Einzelkämpfer, Visionäre, Propheten und Heilige. MARTIN LUTHER z.B. vermochte im fast hoffnungslosen Kampf gegen alle Widersacher, statt aufzugeben, noch zu sagen: "Hier stehe ich und kann nicht anders". Solche Leute, meistens in ihrer Zeit als Häretiker und Utopisten verkannt und verstoßen, stellten sich oft erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten als die wahren "Realisten" heraus, jedenfalls realistischer als ihre "realistischen Kritiker".

Das Neue setzt sich immer nur als kleines "Licht der Welt" durch; als "Sauerteig", der lange braucht, um alles zu durchsäuern; als "Salz der Erde" , welches leicht den Mut zu verlieren vermag und dabei aufhört, Salz der Erde zu sein; als "neuer Wein", für den die alten Schläuche nicht mehr taugen. Es hat lange gedauert, bis das Volk Israel im AT zum Ein-Gott-Glauben und zu den Zehn Geboten fand. Es hat lange gedauert anzuerkennen, dass Gott den Menschen geschaffen hat als Gleichwertigkeit von Mann und Frau; dass das Volk Gottes nur existieren kann in der Einheit und Spannung zwischen den vielen Erscheinungsformen, die sich "Menschen" nennen. Es hat lange gedauert, bis die Kirche - etwas verstohlen und schlechten Gewissens - eigene Schuldbekenntnisse gegenüber der Geschichte auszusprechen vermochte. Es hat lange gedauert, bis die Irrtümer z.B. des Papstes Gregor XVI als solche eingesehen wurden. Dieser hatte noch 1846 die damals aufkommenden Wertvorstellungen wie "persönliche Würde", Gewissensfreiheit und Verantwortung... "Irrsinn" genannt und "höchst verhängnisvolle Irrtümer". Es wird noch lange dauern, bis man amtskirchlich einsehen wird, dass die Überwindung der Konfessions- und Kirchenkrisen wie auch lebendige "Ökumene" durch theologische Spitzfindigkeiten nicht erreicht werden können. Es wird noch lange dauern, bis man begreifen wird, dass "Laien" und "Frauen" in der Reich-Gottes-Predikt Jesu eine gleichwertige Beauftragung und Sendung haben.

Man kann die Palette der Einzelheiten noch beliebig verlängern. Bei aller aufzubringenden Geduld und Erwartungshaltung ist es tröstlich zu wissen, dass bisweilen die Mauern plötzlich, unerwartet, sozusagen mitten in der Nacht fallen, wie die in Jericho und Berlin. Solche Situationen bedürfen hellwacher Menschen, die begreifen, worum es geht und was da auf dem Spiel steht. HELMUT KOHL, auf BISMARCK zurückgreifend, hat die Ereignisse um den Mauerfall in Berlin in die Worte gefasst: "Man kann nicht selber etwas schaffen; man kann nur abwarten, bis man den Schritt Gottes durch die Ereignisse hallen hört; dann den Zipfel seines Mantels fassen - das ist alles".

Nur Menschen, die es ein Leben lang gelernt haben, sich zu bilden, sich ein realistisches Bild zu machen über sich selbst, über andere und die Welt, die zugleich zu sich selbst gefunden haben, zu ihrer Persönlichkeit, Einmaligkeit und ihrem eigenen Rückgrat, vermögen "den Schritt Gottes" durch die Ereignisse der Geschichte hallen zu hören. Sie sind die eigentlichen "Charismatiker", weil sie repräsentieren und darstellen, was im Namen ihres eigenen Herausgefordertseins und im Auftrag eines Anderen einmalig darzustellen ist.

4. Bildung und Selbstverwirklichung: unverzichtbar im Umbruch der Zeit-Verhältnisse.

Bildung und Selbstverwirklichung: nur im Umbruch geschichtlicher Verhältnisse? Oder ist der Mensch immer im "Umbruch", weil er zu jeder Zeit seine Bestimmung und Rolle im Leben finden muss? So war jedenfalls die Ich-Existenz im AT immer eine Wir-Existenz, weil eingebettet im Gesamtgefüge des Volkes Gottes. Der Paradies-Zustand war ein gemeinsames Dasein; die Vertreibung aus dem Paradies eine gemeinsame Vertreibung. Und die Unerlöstheit der Menschheit seitdem und seine Erlösungsbedürftigkeit beziehen sich immer auf alle, weil alle in einer Schicksalsgemeinschaft existentiell verbunden sind (Röm. 8.18 ff).

Diese Grundstruktur besteht auch im NT fort. Der Einzelne war und ist eine Bezogenheit auf die anderen. Vom Wohl des Einzelnen hängt bei Paulus das Ganze der Gemeinschaft ab. "Kirche" ist dabei nichts anderes als das mehr oder weniger harmonische Zusammenspiel der einzelnen Gaben und Charismen (1Kor 12-13). Wenn man das Christentum weniger als "Schriftreligion" versteht, viel mehr wie ursprünglich als "Beziehungsreligion" zu einer Person, dann sind die biblischen Bücher nichts anderes als das Ergebnis der Auseinandersetzung der ersten Gemeinden mit dieser Person, die eine Botschaft verkündete und ein Schicksal erlitt. So gestalteten die ersten Gemeinden auch nicht ihre Kraft und ihre Überzeugungsfähigkeit durch "unfehlbares Reden" und Dozieren der wenigen gegenüber den vielen. Sie wuchsen heran und taten sich hervor als Erinnerungs-, Erzähl-, Austausch-, Glaubens-, Hoffnungs-, Lebens- und Mahlgemeinschaften, stets in dem Bewußtsein: wo ein oder zwei in Seinem Namen versammelt sind, da werden "Kirche" und "Gemeinde" konstituiert.

Vom AT und NT her sind Bildung und Selbstverwirklichung bereits unverzichtbar, wenn es um die Ebenbildlichkeit des Menschen, um die Entfaltung seines persönlichen Charismas und um die Lebendigkeit des Glaubens einer Gemeinde geht. Was der Kirche jahrhundertelang aus ideologischen und kirchenpolitischen Gründen wie gesellschaftlichen Rücksichtnahmen abhanden gekommen ist, muss sie spätestens mit LUTHER und dessen "sola-scriptura-Idee", seit der Aufklärung und dem Auftreten der modernen Humanwissenschaften wieder lernen. Ob sie dazu fähig ist? Was für Demokratien von größter Wichtigkeit ist - nämlich Mehrheiten durch Überzeugungsarbeit gewinnen - , ist seit Jahrhunderten für die Kirchen eher gefährlich. Denn was wird aus ihren patriarchalischen Strukturen, wenn plötzlich alle mitreden wollen? Was wird aus der Unfehlbarkeit der theologischen Spezialisten und Lehrämter, wenn die Menschen ihren Glauben plötzlich ganz anders verstehen? Für die bestehenden Ordnungshüter gibt es deshalb nur folgende Perspektiven: zurück in die Vergangenheit; Erhaltung des "status quo" um jeden Preis; das Zufriedenstellen "mündiger Christen" mit möglichst kleinen Katechismen, weil die "Klugen und Weisen" die großen zum Belehren und Dozieren für sich selbst behalten wollen.

Dennoch haben uns demokratische und aufklärerische Entwicklungen in Umbrüche und Umwälzungen gestellt, die man nur mit wichtigen Hinweisen zu erahnen vermag. Fachleute sprechen von Traditionsverlust; Werteunsicherheit und -beliebigkeit; Bindungs- und Zukunftsangst; Staats-, Parteien- und Kirchenverdrossenheit; Individualisierung in allen Lebensbereichen; Bastelbiographie; Anonymität in der Masse; wachsende Verführbarkeit des Menschen durch Parolen und Schlagzeilen; nicht mehr überprüfbare Verlogenheit im Kleinen wie im Großen; Gewissenlosigkeit; opportunistisches Mitläufertum und Karrierestreben...

Das Spektrum einer "Gesellschaft in Auflösung", in der Krisen und terroristische Gewalttätigkeiten immer mehr Normalzustände werden statt Ausnahmen zu sein, ist also breit und bedrohlich. Die Gesellschaft versucht ihr "Gleichgewicht" zu wahren bzw. immer wieder herzustellen, indem sie auf die von ihr selbst proklamierten Menschenrechte pocht und neuerdings auch auf Menschenpflichten verweist. Wo und wie finden die Kirchen ihr "Gleichgewicht" und damit ihre Anhängerschaft? Es bestünde die reale Chance, den Wertekatalog des Evangeliums allgemein wieder in die Mitte zu stellen und "unten" wie "oben" danach handeln zu lernen. Sicher müssten "theologische Summen" nach hinten gerückt werden, indem das für alle Verständliche des Evangeliums wieder praktikabler Maßstab wird. Liebgewordene Strukturen und Traditionen müssten auf die Frage hin kritisch untersucht werden, ob sie der Entfaltung des Ursprünglichen dienen oder dessen Verhinderung... Jedenfalls ist es das Gebot der Stunde, möglichst vielen wieder Kompetenzen und Zuständigkeiten zuzugestehen. Wo kirchlich und strukturell den Menschen Gaben und Fähigkeiten aberkannt werden, die ihnen von Gott gegeben sind, da eröffnet sich keine Zukunft mehr. Kirchen und Gesellschaften verfallen ihrer eigenen "Krankheit zum Tode" (KIERKEGAARD); sie begehen blind und unbewußt "begeisterten Selbstmord". Man könnte das Klagelied anstimmen, welches Jesus über Jerusalem geweint hat: Wenn du doch rechtzeitig erkannt hättest!... Nun ist es vor deinen Augen verborgen... Es wird kein Stein auf dem anderen bleiben (vgl. Lk 19. 41-44).

5. Die Angst des Menschen vor sich selbst

Es wäre verfehlt, würde man die Verhinderung von Persönlichkeit und Bildung nur Gesellschaften, Kirchen und Verbänden zutrauen. Oft ist es den Menschen recht und billig, Herdenmenschen zu sein, sich gängeln und bestimmen zu lassen. Darauf hat THOMAS von AQUIN († 1274) bereits im 13. Jahrhundert hingewiesen. Er hat von einer der entscheidenden Hauptsünden gesprochen, die den Menschen daran hindern, seinen eigenen Lebensweg zu finden. Ohne persönlich wichtige "Optionen" könne der Mensch zu sinnerfülltem Leben nicht finden. Für ihn war die "acedia", die geistige Trägheit jene Schwerkraft, die den Menschen nicht das sein lässt, als was Gott ihn liebt und will. Denn Gott habe jedem etwas Originelles in den Grund seiner Seele gelegt, dessen Entfaltung menschliche Würde überhaupt ausmacht. Aber die geistige Trägheit hindere ihn daran, seinem eigenen Wesen, seiner "wahren Gestalt" zuzustimmen. Wer aber "verzweifelt nicht er selbst sein wolle", der könne weder zu sich selbst "ja" sagen noch einen anderen bzw. die Welt in ihrer Gesamtheit annehmen und bejahen.

Indem THOMAS von AQUIN von der grundlegenden Versuchung zur geistigen Trägheit spricht, hat er eine fundamentale Erkenntnis der anthropologisch-psychologischen Forschung der Gegenwart jahrhundertelang vorweggenommen. ERICH FROMM, SIGMUND FREUD, ALEXANDER MITSCHERLICH und andere sprechen davon, dass der heutige Mensch, auffallend überbeschäftigt, mit vollem Terminkalender von morgens bis abends, nur äußerlich ein "Aktiver" sei. In Wirklichkeit sei er "passiv", weil dauernd auf der Flucht vor sich selbst aus Angst vor den Abgründen in seiner eigenen Seele.

Was auf vielfältige Weise beschrieben wird als geistige Trägheit und Flucht vor sich selbst, als Unfähigkeit zu seiner eigenen Lebensrealität, drückt sich äußerlich in symptomatischen Kompensationsmechanismen aus, die nach äußerstem Aktivismus riechen. Dann ist von dauernder Rast- und Ruhelosigkeit die Rede; von äußerer Hektik und innerer Nervosität; von Depression, Traurigkeit und Verzweiflung; von Dauerstress und extremer Angespanntheit; von der Unfähigkeit zum Schweigen und Verarbeiten des Erfahrenen und sinnlich Wahrgenommenen; vom Perfektionismus und dem unmöglichen Vertrauen, Fragmentarisches und Vorläufiges akzeptieren zu lernen - obwohl sinnvoll gestaltetes Leben nur möglich wird durch das Reifer- und Erfahrener-werden von Stufe zu Stufe, von Schritt zu Schritt...

Der Negerdichter RICHARD WRIGHT sieht in den modernen Symptomen des Aktivismus Auswüchse einer latenten, nicht bewältigten Angst vor den "Ausweglosigkeiten des Lebens". Denn wer die Welt als Ganzes nicht in den Blick bekomme und die Abgründigkeiten des Lebens nicht in den Griff, werde unaufhaltsam wie ein Funktionär, der den Zufälligkeiten des Augenblickes ausgeliefert bleibt. Äußerlich ständig rastlos und aktiv, ist der moderne Mensch stets in Gefahr, ein Getriebener, ein Gehetzter, ein Angespannter... zu sein. Er bestimmt nicht sich selbst, sondern wird von anderen bestimmt und gesteuert und kann - wie die Erfahrung der Vergangenheit und Gegenwart zeigt - von allen möglichen geistigen wie politischen Führern bzw. "Gurus" in den Dienst genommen, gebraucht und missbraucht werden. Die Gefahr dazu wächst im Maße der Einzelne ein geistig Unfähiger, ein Unverantwortlicher und letztlich auch ein "Gewissenloser" bleibt, weil nie reif und fähig geworden zu eigenen Entscheidungen.

6. Die "Krankheit zum Tode" und die Abschaffung der Ruhetage.

Ruhe- und Rastlosigkeit gehen übrigens bis in die Nacht hinein. Ein charakteristisches Merkmal von Menschen, die ihren Motor in einem rationalen Planungssystem nie abzustellen vermögen, ist die Schlaflosigkeit. Wer sich nicht mehr fallen lassen kann, wer nicht mehr sorglos und entspannt wie ein Kind zur Ruhe kommt, dem vermag auch der Herr im Schlaf nichts Schöpferisches zu geben. Bereits HERAKLIT († ca. 544 v. Chr.) hat davon gesprochen, dass wirklich schlafende Menschen "Tätige" seien und am meisten fähig, sich als Mitwirkende am Geschehen in der Welt sinnvoll zu beteiligen. Im AT spricht der leidgeprüfte HIOB (35,10) von einem Gott, der "Loblieder schenkt in der Nacht". GOETHE beschreibt seine eigentlich tiefen Einsichten und Einfälle wie Blitze, die einen in der Nacht nur für kurze Augenblicke überfallen. Sie müssen daraufhin beständig und hartnäckig aufgearbeitet werden, weil sie eine Ahnung von dem vermitteln, "was die Welt im Innersten zusammenhält".

Menschen mit einem tiefen Begreifen und Erahnen der eigentlichen Welt- und Lebenszusammenhänge vermögen einem Anderen Vieles zu überlassen. Das macht ruhig und gelassen - bei allem Verantwortungsbewusstsein. Sie leben nicht mehr, wie PAULUS schreibt, "aus der Klugheit des Fleisches" (Röm 8,1 ff). In ihrer inneren Ruhe und Gleichgewichtigkeit vermögen sie über alles Menschliche hinaus zu glauben, zu hoffen, zu lieben. In der erfüllten Ahnung und inneren Sicherheit, dass alles, was sie denken und tun, in einem "göttlichen" Zusammenhang steht, vermögen sie zu einer Reife zu gelangen, die letztlich nicht mehr menschlich ist. "So kann der Mensch nicht leben, sofern er Mensch ist, sondern nur, sofern ein Göttliches in ihm wohnt", schreibt ARISTOTELES († 322 v. Chr.). Und I. KANT († 1804) spricht von den "drei Dingen", die der Himmel dem Menschen als Gegengewicht zu den vielen Mühseligkeiten des Lebens gegeben hat: die Hoffnung, den Schlaf und das Lachen...

Der Tatsache, dass Völker, Kulturen wie auch Religionen Sonn- und Feiertage eingerichtet und auf deren Einhaltung oft streng geachtet haben, hat in der Tat viel mit der geistigen und religiösen Gesundheit des Menschen zu tun. Es kann Christen nicht einfach darum gehen, am Sonntag ein bisschen "fromm" zu spielen bzw. in der Kirche einen religiösen Eindruck zu hinterlassen. Ruhetage gelten - neben dem religiösem Gehalt - dazu:

  • "Abstand" von den oft banalen Abläufen des Alltags zu gewinnen und Zeit dafür aufzubringen, sie zu verstehen, aufzuarbeiten, das Sinnvolle und Sinnlose an ihnen zu erkennen.
  • Durch das Hören auf andere in Vorträgen, Gesprächen und im Lesen von Büchern die Erfahrung zu sammeln, dass es anderen im Leben ähnlich geht. Es schafft Zusammenhalt, Solidarität, Gespür für einander. Es regt an, aber auch auf. Nach LUDWIG FEUERSTEIN werden die anderen zu "Gewissensbissen der Menschheit".
  • Nur durch das Verarbeiten guter und schlimmer Erfahrungen gewinnen diese eine fürs Leben integrierende Kraft. Man lernt, selbständig, bewusst und begründet "ich" zu sagen und eigene Überzeugungen zu verstehen - auch dann noch, wenn die äußeren Bedingungen dazu miserabel sind.

7. Freiheit und Selbstverwirklichung müssen gelernt werden.

Einige Schlussbemerkungen seien hier erlaubt:

  • Beim Lesen, Sprechen und Zuhören findet eine Identifizierung mit, aber auch eine Distanzierung von Anderen statt. Der Einzelne nimmt an der Sicht der Dinge und des Lebens eines anderen teil. Das hilft ihm, seinen eigenen Standpunkt zu klären, zu eigenen Gewissheiten und Überzeugungen zu kommen. Es zeichnen sich Konturen ab für Lebensorientierung und Lebensbewältigung. Das an-regende oder auf-regende Denken eines anderen zwingt zur durchdachten und begründeten eigenen Sinnorientierung, ohne dem anderen "das Seine" zu nehmen.
  • Indem die Rolle des "einsamen Denkens" überwunden wird; indem durch gemeinsames Sprechen und Besprechen Austausch, Kommunikation, Dialog und Auseinandersetzung gelingen, ereignet sich unter Gesprächspartnern die bunte Facettenhaftigkeit des Lebens und die unterschiedliche Sicht der Dinge. Genaues Hinhören und Verstehen-wollen machen den Blick frei für andersgeartete Erfahrungen, für Zweifel und Ängste, für Abgründigkeiten und "Hoffnungsversuche". Dabei wächst der Weg zum anderen, zu mehr Verständnis und Toleranz. Im Vertrauen zueinander erfährt der Einzelne viel über den anderen, vor allem aber über sich selbst. Die Welt fängt an, in einem neuen Licht zu erscheinen. Es wachsen Selbstsicherheit und Mut zur eigenen Meinung. Im Maße der eigene Standpunkt geklärt und im Selbst verankert ist, wird der Mensch kompetent, reif und sprachmächtig genug, um sich in (kirchliche wie gesellschaftliche) Prozesse einmischen zu können.
  • Das vertiefte Sprechenlernen miteinander; das Aufarbeiten persönlicher und gemeinschaftlicher Erfahrungen regen zu Kreativität, Phantasie und gemeinsamen Lösungen an. Sie vermögen bei existentiellen Krisen "einfach Wunder zu wirken" (E. FRANKL). Sie machen selbstbewusst und verleihen Ich-Stärke, so dass nicht nur Vergangenheit bewältigt, sondern auch Anstöße für die Zukunft gegeben werden. Das wachsende Vertrauen und Bewusstsein des "gemeinsamen Sitzens in einem Boot" machen nicht nur Mut zu neuen Fragen, sondern auch zu neuen Antworten. Die stets "mündliche Auseinandersetzung" dient am meisten der Konkretheit des Lebens. Sie ist aus dieser Erfahrung heraus chronisch misstrauisch gegenüber jedem Buchstaben-Glauben bzw. Glauben an "Vorschrift, Gesetz und Ordnung". Leben muss zwar immer auch "organisiert", strukturiert und gemeinsam verantwortet werden. Aber alle solche "Maßnahmen auf Abruf" dürfen nicht in die Sklaverei der Buchstabengläubigkeit führen; sie müssen, realitäts- und situationsbezogen, stets dem werdenden und wachsenden Leben verpflichtet bleiben.
  • Dauernde Auseinandersetzung verhindert die Diktatur des polizeistaatlichen bzw. ideologischen Denkens. Sie wirkt der geistigen Inferiorität und der bigotten Verlogenheit leerer Worthülsen entgegen, die deshalb so nichtssagend sind, weil sie beanspruchen, schon alles gesagt zu haben. Wo keine persönliche Betroffenheit mehr zur Sprache gebracht oder ausgelöst wird, ist keine Zukunft zu gewinnen. Die Welt bedarf mehr denn je der Freiheitskünstler, die Verantwortung zeigen und zur persönlichen Tapferkeit tauglich sind. Sie bedarf weniger der bloßen Zu-Schauer und der passiven Zu-Hörer als vielmehr der entschiedenen Zeugen und "Täter des Wortes", die sich gegen jede Form der Anonymität in der Masse zu Wehr setzen; die sich gegen destruktive Weltmächte wehren, die es schon deshalb sind, weil sie die Notwendigkeiten der Zeit nicht verstehen wollen und deshalb nicht schöpferisch zu reagieren vermögen.
  • Nach Meister ECKHART gibt es eine innere Korrespondenz und "Gleichzeitigkeit" von Lese- und Lebemeister. Gemeinsames Sprechen kann helfen, dass diese Übereinstimmung erhalten bleibt. bzw. wieder gefunden wird. Menschen, die etwas von der Konkretheit des Lebens verstehen, sind die besten Garanten dafür, dass nicht in graue Theorien abgehoben und aus der Lebensuntüchtigkeit in "ewige Lehrsätze" geflüchtet wird. Auch Religion und christlicher Glaube haben nur dann eine Zukunft, wenn sie das Gewicht menschlicher Welt-Immanenz in seiner Ganzheit erfassen und Wege der Hoffnung eröffnen auf den hin, "der alles in allem ist".
  • Bildung und Selbstverwirklichung werden nicht dadurch, dass man sich etwas über sich selbst oder andere einredet, einer "Fata morgana" bzw. Lebenslüge nachläuft. Sie sind lebenslange Prozesse, die eigentlich nie zu Ende sind, solange das Leben währt. Sie sind auch nicht mühelos zu erreichen, auf dem Wege der Gelegentlichkeit oder Unverbindlichkeit. Sie werden entweder von innen angestoßen, von eigenen Lebenskrisen und -situationen oder von außen provoziert durch kirchliche oder gesellschaftliche Veränderungen. Wo Bildung und Selbstverwirklichung gelingen, provozieren sie ihrerseits kirchliche oder gesellschaftliche Lernprozesse. Eigentlich nur so bleiben persönliche Biographien, Ehen, Familien, Kirchen und Gesellschaften geistig wach und lebenstüchtig. So sieht es auch Paulus. In Röm. 8.14 heißt es: "Die vom Geist getriebenen sind, sind Kinder Gottes". Und weiter (8.15-17): Ihr habt keinen Geist empfangen, der Euch zu Sklaven macht, sondern jenen anderen, der Euch im "Abba Vater" die Taten Gottes zu tun lehrt.
  • Was es über Bildung und Selbstverwirklichung zu sagen gibt, muss heutigen Menschen mit ihrer Grundeinstellung: alles ist "machbar", alles ist "käuflich" wieder ins Stammbuch geschrieben werden: es gibt Dinge, die nur mit "Zucht, Maß und Anstrengung" zu erreichen sind. In früheren Zeiten wurden religiöse Vorstellungen allzu oft mit Strenge und Drill verwechselt. Heute in der "Spassgesellschaft" besteht die Gefahr, alles mit Freude, Spiel, Lebensleichtigkeit erreichen zu wollen. "Strenge" und Anstrengung sind verpönt. Auch die Religion muss sich leicht, kostenfrei, erlebnisreich, interessant darstellen - bis in "coole Gottesdienste" hinein. In Wirklichkeit geht es bei ihr, wie bei der Bildung und Selbstverwirklichung, um ein lebenslanges Umgehenlernen mit all den "Jahreszeiten", die es gibt. Sie heißen Erfolg und Misserfolg, Freude und Leid, Gesundheit und Krankheit, Enttäuschung und Hoffnung, Niederlagen und siegreiches Überleben. Wer diesen unterschiedlichen Erfahrungen ausweicht, sie verdrängt und leugnet, gleicht bei allem äußeren Schein einem "blühenden Unsinn", einem Haus auf Sand gebaut, in dem niemand zu wohnen bereit und fähig ist.

Für ELIE WIESEL muss der Mensch jemand sein und werden, "der sucht; jemand, der gesucht wird. Jemand, der zuhört und auf den gehört wird. Jemand, der die Menschen sieht, wie sie sind und wie sie sein sollten. Jemand, der seine Zeit widerspiegelt und doch außerhalb der Zeit lebt."


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