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Pater Fritz Köster
Propsteistraße 2
56154 Boppard-Hirzenach
Alles Leben ist Herausforderung,
welche nach Antwort verlangt.
   
Bild: Pater Fritz Köster SAC.

Was ist Religion (4)? :
"Person - Werdung"!

August 2005

Es mag ungewöhnlich sein, wenn im Zusammenhang dieser Frage die primäre Antwort "Person-Werdung" gegeben wird. Tatsächlich legen die personalisierenden Impulse des Alten und Neuen Testamentes diese Antwort als unverzichtbar nahe. Mit Recht hat Kardinal Josef Ratzinger - heute Benedikt XVI. - den Übergang vom Begriff Individuum zu dem der Person als die entscheidende Wende vom hellenistisch zum christlich geprägten Denken bezeichnet. Mit "Person" rückt die Unverwechselbarkeit des Einzelnen in den Vordergrund...

Ob diese Einsicht jedoch in ein handfestes, effektives pädagogisches Konzept umgesetzt worden ist, bleibt sehr zweifelhaft. Ebenso scheint das "Bodenpersonal" von der Ausbildung und Beauftragung her kaum geeignet und disponiert. Bei der Selbstbeschränkung auf Predigt und Sakramente laufen viele Ausdrucksformen der Verkündigung in einer Monologstruktur "von oben nach unten". Der Theologe Medard Kehl behauptet, der Kirche sei auf weiten Strecken der in klugen Sätzen formulierte Übergang vom Individuum zur Person in der Praxis nicht gelungen. In den vorhandenen Sozialstrukturen gäbe es "Subjekte" des belehrenden Dozierens und "Objekte" des Belehrtwerdens; Verwerfungen von oben und religiöse Sprachlosigkeit unten; Befehlsformen oben und Gehorsams- bzw. Untertänigkeitsformen unten. Eigenständiges Denken "unten" würde mit Misstrauen und Maßregelungen bedacht...Wie könnte es auch anders sein, da der "Wahrheitsanspruch" höchste Priorität besitzt?

Jedenfalls laufen solche und ähnliche Verhaltensmuster darauf hinaus, dass der in Sätzen festformulierte "Glaube" dem krisengeschüttelten, werdenden und wachsenden Prozess der Person-Werdung vom Kind hin zum Erwachsenenalter wenig gerecht zu werden vermag. Die Erfahrung zeigt: "Glaube" kann mit vielen Initiativen und großem missionarischen Eifer so verkündet werden, dass daraus Zweifel und purer Unglaube erwachsen. Der Anfang einer solchen Entwicklung beginnt gewöhnlich damit, dass schon im frühen Stadium des Erwachsenenwerdens Religion und Glaube als "Kinderangelegenheiten" klassifiziert und abgelehnt werden. Wo Glaube nicht wachsend in das Leben integriert wird; wo das menschliche Denken nicht neugierig und wach gehalten wird für das jeweils "Neue" an Erkenntnis und Erfahrung, da wird jede theologische Lehre nur äußerlich angenommen. Sie gerät unter "Ideologieverdacht". Das Sakrament entartet zum Sakramentalismus mit magisch-fetechistischen Erwartungen; das Dogma zum Dogmatismus; der Ritus zum buchstabengerechten Ritualismus; das Recht zur Wortklauberei; die Überzeugung zur selbstverhärteten Unbelehrbarkeit. Auf diese Weise neigen alle religiösen Systeme zu fundamentalistischen Auswüchsen.

Ideologien und "Ismen" sind immer Folgen davon, dass religiöse Einsichten bei Menschen nicht gewachsen, sondern nur äußerlich wie Lack auf einem Möbel aufgetragen sind. Religiöse Systeme, die den "Kinderglauben" fördern und kultivieren, neigen bewusst oder unbewusst dazu, den Erwachsenen-Glauben nicht zum Zuge kommen zu lassen. Letzterer könnte jeden autoritären, rechthaberischen und "unfehlbaren" Anspruch gefährden. Andererseits neigen viele Menschen dazu, im Kinderglauben stecken zu bleiben. Sie gleichen "religiösen Schafen", die der klaren und autoritären Richtlinien bedürfen. Sie neigen zu blindem Gehorsam und gefälliger Untertänigkeit, weil dies ihrer Bequemlichkeit, ihrer "geistigen Trägheit" (Thomas v. Aquin) entspricht.

Die Frage ist, ob Dogmatik, Kirchenrecht, Ritus und Liturgie überhaupt in der Lage sind, das Werden und Wachsen im Glauben zu begleiten und zu garantieren? A. Delp hat schon 1945 prophetisch darauf hingewiesen, dass wir mit allen unseren theologischen Einsichten und Weisheiten an einem "toten Punkt" angelangt sind. Seitdem ist wenig über diesen "toten Punkt" nachgedacht worden. Wahrscheinlich war Johannes XXIII. eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen. Er wollte vor 40 Jahren kein dogmatisches bzw. lehramtliches Konzil; er wollte keine neuen Dogmen und nicht die Zementierung der alten. Sein Ansatz war ein "pastoraler". Man könnte sagen: ein eminent pädagogischer.

Bei solchem Ansatz geht es nicht mehr um Begriffe und unfehlbare Festlegungen, sondern um die "Wende zum Menschen". Folgende Kernfragen stehen dabei im Mittelpunkt: was geht in den heutigen Menschen vor? Was ist ihnen existentiell wichtig? Was gibt es an Ängsten, Zweifeln, Hoffnungen, Versuchungen, Gefährdungen? Wo steht der konkrete Menschen und was ist auch ohne kirchliche Verkündigung an Gaben, Fähigkeiten, Kräften in ihm grundgelegt und gewachsen? Wie können menschliche Einsichten und Erfahrungen evangeliumsgemäß geläutert, orientiert und entfaltet werden - im Blick auf den, der für das Christentum zum Maßstab eines reifen, gottgefälligen und sinnerfüllten Lebensentwurfs geworden ist?

Nicht das Fixiertsein auf "Kirche" und deren Selbsterhalt, nicht allumfassende Lehren und Rechtvorschriften vermögen angemessene Antworten auf solche Fragen zu geben. Hier steht wieder zur Diskussion, was ursprünglich einmal "Erziehung auf Christus hin" genannt wurde - was nicht identisch ist mit einer Erziehung auf eine bestimmte Sozialform von "Kirche" hin. Der Übergang von einer auf Selbsterhalt ausgerichteten Sozialstruktur zur Personalisierung im Glauben wird auf Zukunft nur gelingen durch das Herstellen eines kommunikativen Glaubensmilieus. Dies ist etwas anderes als das, was gegenwärtig geschieht: Dialog in kirchlichen und theologisch-akademischen Chefetagen. Dem "Glaubensmilieu" ist das Gegenüber von Glaubenden und weniger Glaubenden, von Wissenden und weniger Wissenden, von Gelehrten und weniger Gelehrten, von akademisch Geschulten und "einfach gestrickten Laien" eher schädlich. Zudem erweckt es den irrigen Eindruck, als sei theologisches Wissen identisch mit "Glauben". Dann müssten die Theologen und Amtsträger die Gläubigsten sein, deren Auftrag es ist, "Glaubensangebote" zu machen. Dieses falsche Schema verschafft sich unter den "Glaubensanbietern" gewöhnlich äußere Ausdrucksformen auf hohem Niveau: gegenseitige Freundlichkeiten und Händedrucks, symbolische Aussöhnungsgesten - letztlich Formen von Unaufrichtigkeit und Augenwischerei, die eher trennen als verbinden.

Im kommunikativen Glaubensmilieu muss der biographische Glaube eine impulsgebende Rolle spielen. Kinder denken und reden anders als Heranwachsende und Erwachsene. Alle erleben die Welt anders. Konflikte, Ängste, Zweifel, Beruf und Religion, Taufen, Eheschließungen, Ehescheidungen und Wiederverheiraten haben einen jeweils persönlich geprägten und sozial gefärbten Hintergrund. Ihnen mit abstrakten Lehren und Rechtsvorschriften zu begegnen, stößt auf Widerstand, wird schlicht und einfach als Nicht-ernst-genommen-werden verstanden, läuft auf die Ignorierung des Menschen hinaus. Eine personalisierende Religion, wenn sie diesem Stigma gerecht werden will, muss immer wieder die Maßstäbe des rechten Handelns oder des Versagens zur Sprache bringen. Es geht um die konkrete Frage nach der gelebten Liebe, der Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit, der Freiheit und persönlichen Entscheidungsfähigkeit, der Gewissensverantwortung mit allen Konsequenzen. Dass daraus auch der Mut zu Unsicherheiten und Wagnissen erwächst, liegt auf der Hand. Er gibt dem Glauben eine persönliche und authentische Note.

Wo es um solche Maßstäbe geht, können persönliche Antworten auf erlebte Situationen sehr unterschiedlich sein. "Objektiv" besteht die Gefahr der Irrungen und Wirrungen; um diese zu verhindern die Versuchung, alles "dogmatisch" - an der Realität vorbei - zu beurteilen und damit zu vereiteln, dass Menschen aus ihren eigenen Erfahrungen lernen und daran wachsen. Die Angst vor dem "irrigen Gewissen" kann vorherrschend werden. Aber wo es um das Werden und Wachsen der Person geht, ist es besser, ein irriges Gewissen zu haben, welches der Schulung und der Formung bedarf, als gar keins. Vorrang muss bei allem die Entfaltung des Menschen haben, wenn das "System" dies auch wenig mag.

Menschen der heutigen Zeit sind insofern "anders" als früher, als sie sich aufgrund geschichtlicher Ereignisse in vieler Hinsicht ausgeliefert, manipuliert, falsch informiert und ideologisch verführt wissen. Man kann von einer dreifachen Bedrohung des Menschen sprechen. Die erste besteht in dem Ausgeliefertsein an sich selbst: seine eigenen Ängste, Zwangsvorstellungen, falsch gesetzten Lebensziele und Prioritäten. Meist ist der Einzelne auf sich selbst gestellt, weil ihm stützende Familien- und verbindliche Gemeinschaftsbande abhanden gekommen sind. Er muss sich seine Lebenswelt - im Konzert der vielen Stimmen und Meinungen - selbst zusammenbasteln. Dabei gerät er in Konflikte, kommt mit sich selbst nur schwer zurecht. Dazu gesellt sich zweitens das Ausgeliefertsein an berufliche, soziale und gesellschaftliche Vorgaben und Unsicherheiten. Menschen fühlen sich gestresst, gezwungen, gedrängt und übermäßig unter Druck gesetzt durch die Interessen und Machenschaften anderer - viele Elemente einer "Bastelbiographie" und "multikulturellen Beeinflussung", die es nicht leicht machen, ein Gefühl für die eigene Würde und Wichtigkeit zu entwickeln.

Verhängnisvoll wirkt sich drittens aus, wenn zu all dem Genannten noch das Gefühl des Ausgeliefertseins an religiös-weltanschauliche Ideologien und "Glaubensbekenntnisse" hinzukommt. Weil darin auch nicht viel "Würde" und "personale Formung" entstehen kann - es sei denn durch den "Trost" verbaler Appelle und Parolen - , ist es nicht verwunderlich, dass Phänomene eklatant auftreten, die als Parteien-, Politik- und Kirchenverdrossenheit bekannt sind. Die Konsequenz lautet: "Glauben ja" - aber sich auf keinen Fall binden und vereinnahmen lassen! Denn was da kirchlich verkündet wird, mag sehr wahr sein, aber als wichtig empfunden wird es nicht.

Lehrsysteme, Glaubenswissen und "allgemein gültige Wahrheiten" haben es in sich, eine gehorsame und willige Gefolgschaft zu produzieren, die auf die "Weisungen des Lehramtes" hört. Dessen Ambitionen lassen sich gegenüber Unmündigen und Unwissenden leicht betreiben, nicht aber gegenüber Persönlichkeiten. Deren Charismen sind zu blinder Hörigkeit nicht geeignet. Deshalb sind Lebens-, Gewissens- und Entscheidungskompetenz von Menschen eine Existenzfrage von Religionen und Glaube. Diese haben Menschenwürde und Freiheit mit ihrer eigenen Botschaft in Einklang zu bringen. Dabei müssen sie in Kauf nehmen, dass christlich gewachsene Überzeugungen eine andere Inhaltlichkeit und Akzentsetzung bewirken können. Die Praxis der Liebe und Gerechtigkeit, der Menschwerdung des Menschen, des Heilwerdens der Welt, der Humanisierung der Gesellschaft, der Freiheit des Gewissens und der eigenen Lebensgestaltung kann viele Gesichter und Farben bekommen. Aber jede Vielfalt muss innerlich geeint bleiben in der Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel: die immer wieder angestrebte - trotz aller Rückschläge und Niederlagen - heilere und erlöstere Welt!

Wenn nicht alles täuscht, stehen die großen Religionen und Konfessionen noch ganz am Anfang einer Entwicklung, die die Entfaltung und Würde des Menschen im Blick behält.
 


Letzte SeitenÄnderung: 02.03.2011.
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